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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder
Autoren: Karen Thompson Walker
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das Getreide, an dem er arbeitete, das, das ohne Licht gedeihen konnte. Er gab auf und machte sein Labor dicht. Eines Tages in jenem Herbst beschloss er, mit Seth wegzuziehen – nach Mexiko, wo die Strahlung angeblich schwächer war.
    Ich erinnere mich noch an den Nachmittag, an dem Seth mir erzählte, dass sie fortgingen, daran, wie verzweifelt ich mich an die Worte klammerte, die er im Anschluss sagte: »Aber wir kommen ganz bestimmt zurück.«
    Ich erinnere mich an den Tag, als sie den Möbelwagen beluden, daran, wie sein Vater ihn auf dem Arm trug und wie dürr Seths Beine herabbaumelten, wo sie doch einmal stark gewesen waren. Ich hatte Seth geholfen, seine Sachen zu packen, und er hatte mir sein Skateboard geschenkt; er konnte es nicht mehr fahren.
    »Heb es für mich auf«, sagte Seth auf dem Beifahrersitz. Diese letzten Minuten weinte ich so heftig, dass ich nicht sprechen konnte. Ich weiß noch, wie Seths Vater den Blick abwandte, während er den Wagen belud. »Es ist nur für ein paar Monate«, sagte Seth und berührte mein Gesicht mit der Hand. Seine Haut hatte ihre Farbe verloren, aber seine dunklen Augen waren so dunkel wie früher. »Du wirst schon sehen: Wir kommen zurück.«
    Ich erinnere mich daran, der Möbelwagen von mir wegrollend, Seths Gesicht in der Ferne verschwinden zu sehen. Danach stand ich lange auf der dunklen Straße, presste das Skateboard an die Brust und wartete, als bestünde eine winzige Möglichkeit, dass der Wagen die Richtung ändern und sich in der Zeit rückwärts statt vorwärts bewegen könnte, während um mich herum das Leben weiterhin nur in die eine Richtung schritt.
    Am nächsten Tag schickte Seth mir eine kurze E-Mail, ein paar kostbare Worte: Mexiko ist komisch , schrieb er, und heiß! Ich vermisse dich!
    Ich las sie immer wieder an jenem Tag und am nächsten. Ich konnte das Echo seiner Stimme in den Worten hören.
    Es war zwei Tage später, dass ganz Nordamerika dunkel wurde, der größte Stromausfall der Geschichte. Zweiundsiebzig Stunden lebten wir bei Kerzenlicht und rationierten unsere Vorräte. Überall auf dem Kontinent fehlte den Pflanzen die zum Wachstum benötigte künstliche Beleuchtung. Wir hatten Angst, uns würde das Essen ausgehen. Plünderer zogen durch die Städte und die Einkaufszentren. Zum ersten Mal in meiner Erinnerung ging mein Vater nicht zur Arbeit. Wir drei drängten uns zusammen in unseren Strahlenschutzbunker. Mein Vater versperrte die Tür mit einer Kette. Meine Mutter befürchtete, wir hätten nicht genug Wasser, deshalb nippten wir daran, so langsam wir konnten. Wir zählten Stunden, dann Tage. Mitten in der zweiten Nacht hörten wir ferne Schüsse in der Dunkelheit. Wir schliefen überhaupt nicht.
    Schließlich, am dritten Tag, ging das Licht wieder an.
    Aber nicht alles kehrte zurück. Die gigantischen Server, die unsere Computernetzwerke und unsere E-Mail-Systeme und die meisten unserer wichtigsten Websites betrieben, wurden vorübergehend abgestellt, um Strom zu sparen. Jede nicht unbedingt nötige Nutzung von Energie wurde ausgesetzt.
    Und wie wir wissen, wurden diese Server nie wieder hochgefahren.
    Ich war nicht die Einzige, die den Kontakt zu jemandem verlor, den sie liebte. Ich erinnere mich noch an die Flugblätter, die in Postämtern und Lebensmittelläden auftauchten; Namen und Fotos von Menschen hingen bald an denselben Schwarzen Brettern, an denen vorher die Meldungen verlorener Haustiere angeschlagen waren. Wenn Sie diese Frau sehen, sagen Sie ihr bitte, dass Daniel sie sucht. Wenn du da bist, J. T., hier ist meine Nummer. Dabei hatten die jüngsten Beziehungen die geringsten Überlebenschancen – Millionen neuer Verbindungen wurden mitten im Erblühen unterbrochen. Man stelle sich vor, all diese potenziell geliebten Menschen, wieder verloren auf einem Planeten von Fremden. Seths Telefonnummer kannte ich nicht, aber er hatte mir eine Postadresse in Baja gegeben.
    Ich fing an, Briefe zu schicken. Jeden Tag schrieb ich einen – wochenlang.
    Vielleicht war es nicht die richtige Adresse. Vielleicht stimmte etwas bei der Post nicht.
    Manchmal benötigen die traurigsten Geschichten die wenigsten Worte: Ich hörte nie wieder von Seth Moreno.

34
    E s erstaunt mich heute noch, wie wenig wir eigentlich wussten.
    Wir hatten Raketen und Satelliten und Nanotechnologie. Wir hatten Roboterarme und Roboterhände, Roboter, um die Oberfläche des Mars zu erkunden. Unsere unbemannten, ferngesteuerten Flugzeuge konnten menschliche Stimmen
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