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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder
Autoren: Karen Thompson Walker
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aus fünf Kilometern Distanz vernehmen. Wir konnten Haut herstellen, Schafe klonen. Wir konnten das Herz eines Toten Blut durch den Körper eines Fremden pumpen lassen. Wir machten große Fortschritte auf dem Gebiet von Liebe und Traurigkeit – es gab Medikamente zur Anregung der Begierde, Medikamente zur Auflösung von Schmerz. Wir vollbrachten alle möglichen Wunder: Die Blinden konnten wir sehen und die Tauben hören lassen, und täglich zauberten Ärzte Kinder aus dem Schoß unfruchtbarer Frauen. Zur Zeit der Verlangsamung standen die Stammzellenforscher kurz davor, Querschnittslähmung zu heilen – mit Sicherheit wären die Lahmen bald wieder gegangen.
    Und doch überwog das Unbekannte immer noch das Bekannte. Wir stellten nie die Ursache der Verlangsamung fest. Die Quelle unseres Leidens blieb für immer rätselhaft.
    Ich war dreiundzwanzig, als die Pläne für die Explorer verkündet wurden. Die Explorer war eine neuartige Rakete, für Hochgeschwindigkeitsfahrten konstruiert, und würde keine Menschen neben ihrer Fracht befördern. Sie war eine Flaschenpost, ein Souvenir der Erde, vielleicht unsere letzte Botschaft. Sie nähme einen goldenen Datenträger mit auf ihre Reise, der Informationen über unseren Planeten und seine Bewohner enthielte, für den Fall, dass das Raumschiff in einem fernen Bereich des Universums auf intelligentes Leben trifft.
    Ein Spezialistenteam wurde zusammengestellt, um zu entscheiden, was auf dem Datenträger gespeichert werden sollte. Zu den letztendlich ausgewählten Inhalten gehörten der Klang von Wellen, die sich an einem Strand brechen, menschliche Stimmen, die Grüße aus aller Welt sprechen, Bilder ausgestorbener Flora und Fauna, ein Diagramm der exakten Lage der Erde im Universum. Bestimmte grundlegende Fakten waren in Symbolen auf der Außenseite der Disc eingraviert; die Zielsetzung war, die gesamte Historie des einundzwanzigsten Jahrhunderts in Hieroglyphen festzuhalten, mit so wenigen Strichen wie irgend möglich die Geschichte unserer Zeit zu vermitteln.
    Nicht aufgenommen wurde der Geruch frisch gemähten Rasens im Hochsommer, der Geschmack von Orangen auf unseren Lippen, das Gefühl von Sand unter unseren nackten Füßen, unsere Begriffe von Liebe und Freundschaft, unsere Sorgen und Träume, unsere Gnaden und unsere Freundlichkeiten und unsere Lügen.
    Die Explorer wird so große Entfernungen zurücklegen, dass nur die Zeit sie messen kann. Ein Stückchen Uran in der Mitte des Datenträgers soll als radioaktive Uhr fungieren, so dass eines Tages – vielleicht in 60000 Jahren, wenn die Explorer zum ersten Mal in die Nähe des nächstgelegenen anderen Sterns schwebt – irgendwelche Wesen möglicherweise in der Lage sind, das Alter des Raumschiffs zu bestimmen.
    Was sie ebenfalls von dem Datenträger erfahren würden, wäre, dass zur Zeit des Starts der Explorer unsere Nahrungsmittelversorgung gefährdet war und die Dunkelheiten sich vertieften. Das Tempo der Verlangsamung hatte über die Jahre nachgelassen, sie hörte aber nicht auf. Der Schaden war angerichtet, und wir vermuteten inzwischen, dass wir sterben würden. Aber vielleicht wird der Datenträger auch übermitteln, dass wir weitermachten. Wir resignierten nicht, obwohl die meisten Experten uns nur noch wenige Jahre zu leben gaben. Wir erzählten Geschichten und verliebten uns. Wir stritten und verziehen uns. Kinder wurden geboren. Immer noch hofften wir, die Welt käme von allein wieder ins Lot.
    Die Krankheit meiner Mutter schritt nicht fort wie Seths. Sie unterrichtete weiter in Teilzeit an der Highschool, bis die Schule vor ein paar Jahren geschlossen wurde, weil zu viele Kinder nicht mehr hingingen. Mein Vater arbeitet bis heute in der Klinik.
    Sie wohnen noch in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, aber es sieht jetzt völlig anders aus als in meiner Erinnerung. Das Gras und die Bougainvilleen sind natürlich schon lange weg, und eine dicke Stahlverkleidung um die Außenmauern hält die Strahlung ab. Sonnendichte Jalousien versperren den Blick, den ich früher aus meinem alten Kinderzimmerfenster hatte. Sylvias Haus auf der anderen Straßenseite wurde abgerissen. Ein leerer Platz liegt da, wo früher ihre Veranda stand.
    Meine Mutter sagt, ich dächte zu viel über die Vergangenheit nach. Wir sollten nach vorn blicken, sagt sie, auf die Zeit, die noch bleibe. Aber die Vergangenheit ist lang und die Zukunft kurz. Während ich diesen Bericht schreibe, ein einzelnes ganz normales Leben, haben unsere
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