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Ein Jahr in Stockholm

Titel: Ein Jahr in Stockholm
Autoren: Veronika Beer
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das Mädchen, auf dessen Kopf sage und schreibe sieben Kerzen brennen. Zu den vibrierendenTönen der Orgel stimmen sie alle ein Lied an, das mir mittlerweile allzu bekannt ist. Sankta Lucia singen sie, heilige Lucia. Von der melancholischen und doch feierlichen Melodie bekomme ich noch unter dem Rollkragenpullover Gänsehaut.
    Die heilige Lucia, das hat mir Pollie bei unserem letzten Treffen erklärt, wird als Lichtbringerin verehrt und markiert die Wiederkehr der helleren Tage. Einer Legende nach trug sie einen Kerzenkranz auf dem Kopf, um die Hände frei zu haben, wenn sie Christen heimlich mit Lebensmitteln versorgte. Das weiße Gewand steht für ihre Keuschheit, das rote Band um den Bauch für das Martyrium, das sie erleiden musste, als sie entdeckt wurde.
    Diese Rolle ist in Schweden jedes Jahr hart umkämpft. Im Privatfernsehen stimmten die Zuschauer über die nationale Lucia ab. Zudem wählt jeder Ort seine eigene, die sich dann in einer Kutsche zu Pflegeheimen, Industriebetrieben und Lebensmittelgeschäften bringen lässt, um dort Lichterlieder zu singen. All das erscheint mir ungewöhnlich in der sonst klassenlosen Gesellschaft, die zu vermeiden sucht, Menschen in eine Hackordnung zu sortieren. Schönheitswettbewerbe und Kult um Stars wie in Amerika findet man in Schweden kaum. Da bleibt Lucia die Ausnahme.

    In der heutigen Messe klappt alles. Bei Elins kleiner Schwester vor zwei Tagen sah das noch anders aus: Keiner achtete auf den Herrn, der im Dunkeln verzweifelt versuchte zu dirigieren; die Einsätze waren dubios. Währenddessen fiel die Lucia wegen eines seltsamen Stichs am Hals in Ohnmacht. Der zweiten Besetzung tropfte Wachs aus ihrer Krone auf die eigenen Haare und auf einen Pfefferkuchenmann hinter ihr. Wegen Verbrennungen am Auge musste der auf schnellstem Weg ins Krankenhaus. Zudem fehlte ein Solosänger – er lag von snaps und snus beduselt in der t-bana .
    „Keine Angst, es geht wieder aufwärts“, ruft mir Pollies Mama aufmunternd zu, als ich im Nieselregen den Kirchenhof verlasse. Ich bin unsicher, ob sie meine sichtbare Müdigkeit meint oder die Wintersonnenwende, ab der das Licht in Dreiminutenschritten jeden Tag ein bisschen mehr in die Stadt zurückkehrt.

    Entweder haben die Schweden den dritten und vierten Advent vergessen, oder es sind die vielen Erledigungen, wodurch mir das Zeitgefühl abhandenkommt, selbst im vorweihnachtsgemütlichen Stockholm. Jedenfalls steht plötzlich das Fest bevor. Aus Protest schenken Elin und ich uns genau das: einen verträumten gemeinsamen Nachmittag ohne Termine und Eile. In ihrer Wohnung kneten wir Pfefferkuchenteig, aus dem wir Männchen, Blumen und Herzen ausstechen, danach noch eine Ladung Spielgeld fürs Poker, womit ich Bertil überraschen möchte. All das ist so strapaziös, dass wir uns zu Qimmiq aufs Sofa fallen lassen und uns in einer einzigen Gewürzwolke zwei Testbleche einverleiben.
    „Du bist ganz schön schwedisch geworden, weißt du?“, attestiert mir Elin nach einer halben Flasche Begleitwein. Von ihr, der Vollblutschwedin, ein ungeheures Kompliment. „Findest du?“, frage ich zurück. Aus Fremde war Alltag geworden, ja, aber einen geistigen Einbürgerungsprozess hatte ich nicht an mir beobachtet. „Absolut! Du bist gelassener geworden, kannst warten, bis du an der Reihe bist, ohne die anderen im Geiste zu töten. Du fragst verlorene Leute mit Stadtplan, ob du ihnen den Weg zeigen darfst. Du klammerst dich an jeden Lichtstrahl, isst im Sommer Fisch, im Winter Eis, und ich weiß gar nicht, wie du ohne deine fünf f ika- Pausen pro Tag klarkommen sollst.“ Ich stimme ihr zu. Ich habe mich eingeschwedelt. Doch was das Autofahren, den Umgang mit Prominenten sowie die dauernde Landflucht betrifft, bin ich ausgesprochen deutsch geblieben.An Weihnachten sind Lars und ich fein raus. Wir stellen die Wohnung, die Dekoration und die Getränke. Ums Essen kümmern sich unsere Gäste – elf Verwandte von Lars, die am Mittag des 24. als Karawane anreisen. Als Erste kommen Lars’ Eltern mit einer gewagten Hochstapelei an Töpfen und Schüsseln aus dem Fahrstuhl. Es folgen Bertil mit Familie und einer kleinen Schnapsbrennerei unterm Arm sowie Lars’ Bruder Stig mit den obligatorischen kubb- Hölzern, die auf dem Parkettboden bestimmt gut krachen und die neuen Nachbarn für uns begeistern. Als Letzte findet Lars’ Schwester den Weg zu uns. Ihr Freund transportiert einen Obstsalat und drei Kuchenformen. Mit ihren Balancefähigkeiten könnten
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