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Ein Jahr in Stockholm

Titel: Ein Jahr in Stockholm
Autoren: Veronika Beer
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Kerze. Die Stimmung gleicht der einer Beerdigung. Schweigend setzt sich die Familie um den improvisierten Altar und starrt auf die Spitzendecke. Ich werde unruhig. „Es ist so“, beginnt Gunilla: „Heute vor wenigen Jahren war dieser schreckliche Tsunami. Wir fahren oft nach Thailand, wie du weißt.“ Ich erinnere mich. Thailand ist für Schweden in etwa das, was für die Deutschen Mallorca ist. Mehr als 150 000 von ihnen reisen jedes Jahr dorthin, bevorzugt im tiefsten Winter, um Sonne zu tanken.
    „Wart ihr zur Zeit des Tsunamis dort?“, frage ich. „Nein, kurz vorher sind wir heimgeflogen. Aber eine Cousine von mir ist ertrunken, Gustav vermisst seither einen Jugendfreund und zwei Arbeitskollegen von der Universität. Deswegen trauern wir.“ Ich bin geschockt und weiß nicht, was ich zu einem solchen Verlust sagen soll. Deshalb nicke ich bloß und schaue eine Weile in die züngelnde Flamme. Wenn das der Grund dafür ist, warum Mutter und Sohn nicht schwimmen gehen, verstehe ich die Logik nicht, wohl aber die Hintergründe.
    Später recherchiere ich, dass 20 000 der neun Millionen Schweden während des Tsunamis in Thailand und auf Sri Lanka ihren Urlaub verbracht haben. Jeder Dritte im Volk verlor wie meine ehemaligen Vermieter Verwandte, Freunde oder Kollegen; den meisten anderen war zumindest ein Schicksal aus der Gemeinde oder dem Bekanntenkreis bekannt. Und wie beim Untergang der Estonia präsentierten die schwedischen Behörden einen katastrophal planlosenKatastrophenplan – ein Vertrauensbruch, den ihnen die Bevölkerung bis heute nicht verziehen hat.

    Mikkel ist das zweite Kind meines Jahres in Stockholm. Gerade noch so. Malin bringt ihn am Silvesterabend im Karolinska-Krankenhaus zur Welt. Der kleine 08er wird sich wundern, was für witzige und emotionale Momente in dieser Stadt auf ihn warten. Wie ich wird er sich allmählich an ein herrliches Land und das Ta-det-lugnt seiner Leute gewöhnen und eine hinreißend verrückte Sprache erlernen. Ich hoffe nur, Lars wird kein Onkel Bertil. Aber Stig vielleicht.
    Für das Feuerwerk sind wir spät dran. Dabei ist es nicht etwa so, dass Lars und ich auf einer Party versumpft wären. Die meisten Stockholmer begehen den Silvesterabend in kleiner, oft familiärer Runde und sehen die Live-Übertragung aus dem Freilichtmuseum, wo Schauspieler Börje Ahlstedt (der furzende Carl aus Ingmar Bergmans Fanny und Alexander sowie Räuberhäuptling Mattis aus Ronja Räubertochter ) das Neujahrsgedicht vorträgt.
    Wir hatten bei Hummer und schneegekühltem Sekt schwedische Bräuche begangen, zuletzt den, bei dem wir unsere Schuhe durchs Wohnzimmer warfen, um herauszufinden, was uns im neuen Jahr erwartet. Zeigt eine Schuhspitze zur Tür, steht fest, dass man den Wohnort wechselt oder stirbt. Gegen diese Horrorszenarien, die mir aus schwedischen Filmen und von Treffen mit Anders präsent sind, ist Bleigießen als Orakel natürlich was für Babys. Draußen beschießen uns die Nachbarn mit Böllern und Kleinstraketen aus ihren Armeekisten, die so groß sind wie Altglascontainer.
    „Wir hatten lange keinen Krieg mehr“, entschuldigt Lars den Enthusiasmus seiner Landsleute und rennt mit mir hinauf zur ballerfreien Zone in der denkmalgeschützten Fjällgatan mit dem zu kurz geratenen eisblauen Holzhaus nebeneinem orangefarbenen Riesen aus Stein. Hier bietet sich der ideale Blick auf Gamla stan zur Linken sowie Djurgården zur Rechten. Irgendwo sind auch Elin, Sanne und Lars’ Freunde. Doch bevor wir sie im Gedränge ausmachen können, zählen die Menschen um uns herum schon die Sekunden bis zum Jahreswechsel herunter und jubeln los, als das Neujahrsläuten von Skansen herüberklingt. Eine Vielzahl von Feuerwerken mischt sich am Himmel und im Wasserspiegel zu dem gigantischsten modernen Kunstwerk, das ich je gesehen habe.
    Als die Luft über dem Strömmen immer nebliger wird und unsere Nachbarn ihren Partnern Neujahrsversprechen ableisten, merke ich, dass auch Lars etwas loswerden muss.
    „Wie sieht’s aus?“, schlägt der die Frage an, die seit Tagen unausgesprochen zwischen uns steht: „Schuhe lügen nicht. Mein sambo bleibt mir noch eine Weile, nehme ich an?“
    Ich schüttle den Kopf: „Das war’s! Ich komme nicht mehr wieder!“
    Es sind die Sätze von Ola, dessen letzter Tag in der Skeppargatan mein erster war. Ohne jeden Zusammenhang waren sie mir gerade in den Sinn gekommen. Im Schwips gehen die Gedanken groteske Wege.
    „Natürlich bleibe ich“, korrigiere
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