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Ein Jahr in London

Titel: Ein Jahr in London
Autoren: Anna Regeniter
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Klassenzimmer verlassen haben, gratuliere ich Miss Miller zu der gelungenen Stunde.
    „Oh ja, das ist aber auch wirklich eine nette Klasse, da macht einem das Unterrichten richtig Spaß.“
    „In der Tat. Ich freu mich schon auf nächste Woche“, entgegne ich ihr.
    Auf dem Weg durch ruhige Vorortsstraßen zurück zur U-Bahn-Station holt mich eine Frau um die dreißig ein. Sie hat lange, braune Haare, ein nettes, offenes Gesicht und trägt trotz der Wärme rote Fellwinterstiefel und dazu einen Minirock. Außer Atem stellt sie sich vor.
    „Ich bin Maddie, Maddie Williams. Kunstlehrerin. Wie ist das Vorstellungsgespräch gelaufen? Ich habe dich vorhin mit Mr Clarkson reden sehen.“
    „Oh, sehr gut. Man hat mir die Stelle angeboten.“
    „Und du hast sie angenommen? Herzlichen Glückwunsch! Dann werden wir uns ja jetzt häufiger sehen.“
    Als wir nach zehnminütigem Weg auf dem Bahnsteig stehen, bin ich bereits überzeugt, in Maddie eine nette Kollegin gefunden zu haben.
    „Ich glaube, ich muss dich warnen“, sagt sie dann jedoch plötzlich, als die U-Bahn gerade einfährt. Sie zögert ein wenig und fährt schließlich fort: „Die Verhältnisse sind hier nicht so, wie du es wahrscheinlich von deutschen Schulen her gewohnt bist.“
    „In welcher Hinsicht?“, frage ich.
    „Nun, sagen wir, es läuft alles weniger zivilisiert ab.“
    „Weniger zivilisiert?“
    „Ja, die Kinder. Und nimm dich vor Miss Miller in Acht, weil –“. In diesem Moment kommt der Zug mit quietschenden Bremsen zum Stehen und ich verstehe den Rest von Maddies Warnung nicht mehr.
    Sie steigt ein und winkt mir zum Abschied zu, während ich mich hinsetze, um auf meinen eigenen Zug Richtung Camden zu warten. Unzivilisierte Kinder und eine Vorgesetzte, vor der man sich in Acht nehmen muss? Was habe ich mir da eingebrockt? Nächste Woche werde ich mehr wissen.

September
    Und dann kommt sie auch schon, die nächste Woche, und damit der Tag meiner ersten Unterrichtsstunde. Ich habe die ganze Nacht Alpträume von verlegten Lehrplänen, verspäteten Zügen und randalierenden Kindern, aber zum Glück habe ich zuallererst eine siebte Klasse mit Schülern, die gerade erst die Grundschule beendet haben und hier genauso neu sind wie ich. Kein Problem also, denke ich.
    Schon am Tag vorher habe ich mein Klassenzimmer mit deutschen und französischen Fähnchen, einer großen Landkarte und meinem alten Borussia-Dortmund-Schal geschmückt, und als die Schelle zum Unterrichtsbeginn leutet, stehe ich gut vorbereitet auf der Türschwelle.
    Ich weise den Schülern ihre Plätze nach meinem eigens angefertigten Sitzplan zu, damit ich ihre Namen schneller lernen kann, was ich mir allerdings hätte sparen können. Es heißen sowieso alle James, Kelly, Jessica oder Mohammed.
    Zehn Minuten später, nachdem endlich alle mehr oder weniger sitzen, fange ich an, mich vorzustellen.
    „ Ähm, also, my name is Frau Regeniter . Willkommen zu eurer ersten Deutschstunde. I’m from ...“ Nicht ein einziger Schüler zeigt auch nur einen Hauch von Interesse.
    „ Five One! Five One!“ , fängt ein kahlgeschorener Junge in der letzten Reihe an zu schreien, und zwei weitere machen bald mit.
    Fünf eins?
    „We beat you Five One!“ Nach einigen Sekunden wird mir klar, dass von dem Fußballspiel vor einigen Jahren die Rede ist, in dem zum ersten Mal in der Geschichte England zufällig gegen uns gewonnen hat. Das Five One würde ich in denkommenden Wochen noch so oft zu hören bekommen, um einen ausgiebigen Hass auf Oliver Kahn zu entwickeln, der in diesem schicksalhaften Spiel so viele Tore hatte durchgehen lassen.
    Ich ignoriere die rufenden Kinder, und lege mein Deutschland-Quiz auf den Projektor, um die Stunde zu retten.

    Frage 1: In welchen Ländern spricht man Deutsch?
    Frage 2: Welche deutschen Wörter kennt ihr schon?
    Frage 3: Welche berühmten Deutschen kennt ihr?

    Die erste Frage können die meisten mit Leichtigkeit beantworten: Deutschland, Frankreich, Holland, Spanien und Dänemark.
    Als wir zur zweiten Frage kommen, fangen alle im Chor an zu rufen: „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“
    „Kartoffelkopf!“, fügt ein kleines, rothaariges Mädchen stolz hinzu.
    Und bei der dritten Frage fängt wieder der Chor an: „Hitler! Hitler! Hitler!“
    Das Mädchen, das leise „der Papst?“ hinzufügt, würde ich aus Dankbarkeit am liebsten umarmen. Doch ihr Tischnachbar Niall, der bisher nur gelangweilt aus dem Fenster gestarrt hat, schaut plötzlich interessiert
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