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Ein Jahr in London

Titel: Ein Jahr in London
Autoren: Anna Regeniter
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Türenknallen aus dem Hausflur, denke ich verärgert. Denn es handelt sich um ein Klavier. Und zwar ein großes Klavier.
    Es dauert eine gute halbe Stunde, bis die zwei Männer das schöne Stück durch die Eingangstür gezwängt und dann die Treppe hochgestemmt haben. Dann höre ich nur noch ein nicht enden wollendes Krachen und Scheuern an meiner Tür, und nach viel Gestöhne und Gefluche ist es dann irgendwann geschafft und es wird wieder still im Haus.
    Ich klopfe an Yitkees Tür, der mir mit traumatisiertem Blick aufmacht.
    „Was ist denn mit deinem Bett passiert?“
    Er zeigt auf einen Stapel von Holzbrettern auf dem Balkon.
    „Ich musste es auseinanderbauen.“
    „Und wo schläfst du jetzt?“
    „Auf der Matratze.“ An der rechten Zimmerseite lehnt eine dünne Matte, die wohl eben noch so in die Lücke neben Wand und Klavier passt.
    Niemand kann behaupten, Yitkee wäre seiner Musik nicht leidenschaftlich ergeben.
    Und der zu erwartende Lärm bleibt zum Glück auch aus, denn Yitkee ist echter Profi und spielt für das Royal Orchestra , und wenn er nicht gerade eine Aufführung hat, legt er nun allabendlich ein klassisches Konzert hin, das jedenfalls für meine unerfahrenen Ohren richtig magisch klingt. Und so lerne ich sogar in den kommenden Monaten dank einem Singapurianer alle Symphonien Beethovens Ton für Ton auswendig.
    Mit Felice und Yitkee habe ich jetzt schon zwei Bekanntschaften geschlossen, mit denen ich die Umgebung erkunden kann. Und schon bald ergibt sich auch die Gelegenheit, meine anderen Mitbewohner kennenzulernen: Als ich an einemFreitagabend erst spät von einem Konzertbesuch mit meinen Kollegen Maddie und Paul wiederkomme, kommt mir irgendetwas komisch vor. Erst als ich die Brücke zu Primrose Hill erreicht habe, wird mir klar: Es ist irgendwie dunkler als sonst. Weder die Straßenlaternen noch die Lichter im „Pembroke Castle Pub“ sind wie üblich erleuchtet, und aus keinem der Nachbarhäuser dringt auch nur ein Lichtstrahl. Stromausfall.
    Als ich im Dunkeln die knarrende Holztreppe zu meinem Zimmer hochsteige, ist mir etwas unheimlich. Wo wohl Felice und Yitkee sind? Ich klopfe an Yitkees Tür. Keine Antwort. Ich versuche, das Schlüsselloch in meiner eigenen Tür zu finden, da geht über mir eine Tür auf.
    „ Is that you, Anna ? Wir sind alle hier oben!“
    Im Licht etlicher Kerzen kann ich im Zimmer über mir die Umrisse von fünf Leuten ausmachen.
    „Jetzt lernen wir dich endlich kennen! Du bist also die, die unter mir wohnt!“, sagt eine weibliche Stimme mit nordenglischem Akzent. „Ich bin Elli.“ Eine Frau um die dreißig mit Pagenschnitt und Twiggy-Figur schüttelt mir die Hand. Innerhalb von zwei Minuten erfahre ich ihren gesamten Lebenslauf, und dass sie in einem Buchladen in Covent Garden arbeitet, gerade die GI-Diät begonnen hat und an Liebeskummer leidet. Und dass sie zwar die einzige gebürtige Britin im Zimmer, vor allem aber dreiviertel Waliserin sei. Als sie eine kurze Pause einlegt, um Atem zu holen, fällt ihr der Mann neben ihr ins Wort. „Und ich bin übrigens Nick.“ Zuerst bin ich überzeugt, Nick sei Engländer. Er sieht John Lennon wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich, spricht wie ein Londoner, und schließt jeden Satz mit „mate“ ab.
    „Nett, dich kennenzulernen, mate“, sagt er, als er mir die Hand schüttelt, was ich gar nicht so nett finde, denn „mate“ heißt schließlich so viel wie „Kumpel“ und wird normalerweise nur für das männliche Geschlecht verwendet.
    Er erzählt mir, er stamme aus Athen, wohne jetzt aber schon seit vier Jahren in London. Und zwar in diesem Haus.
    Auf die Frage, was er denn in London schon so lange tue, antwortet er, er sei Musiker und Zahnlieferant.
    „Zahnlieferant?“
    „Ich liefere Prothesen an Patienten, die sie nicht selber vom Zahnarzt abholen können.“
    „Ah, interessant.“
    „Wenn man den ganzen Tag in der U-Bahn zu sitzen als interessant bezeichnen kann, mate.“
    „Ach, und das hier“, er zeigt auf den Mann neben sich mit der Figur und dem bulligen Nacken eines Rugbyspielers, „das ist James.“ James schaut kurz auf und fängt dann an, mit dem Schlüssel in seiner Hand zu spielen.
    „Und was machst du in England, James?“, frage ich ihn.
    Nach einigen Sekunden, in denen wir vergebens auf eine Erwiderung des großen Stillen warten, antwortet Nick:
    „Er ist Professor für Informatik an der Metropolitan Universität.“ Für einen Moment überlege ich, was ein wahrscheinlich
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