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Ein Jahr in London

Titel: Ein Jahr in London
Autoren: Anna Regeniter
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allerdings kein uriger Traditionspub, wo sich ganze Familienklans mit ihrem Nachwuchs zum sonntäglichen Umtrunk und Braten treffen, ich suche einen Ort, an dem ich junge Leute finden könnte, die nichts dagegen haben, die Bekanntschaft einer Deutschen wie mir zu machen.
    Ich betrete also voller Hoffnung den erstbesten Pub auf meinem Weg, ein kleines blumengeschmücktes, viktorianisches Gebäude mit dem Namen „Ye Olde White Bear“. An Stelle lachender Stimmen und klirrender Biergläser begrüßt mich eisige Stille, und nachdem ich mich nach einigen Sekunden an die Dunkelheit gewöhnt habe, sehe ich, dass der Pub bis auf ein paar alte Männer, die mich entrüstet anstarren, weil ich sie offensichtlich beim Mittagsschlaf gestört habe, völlig leer ist. Ich kann schlecht einfach wieder umkehren, überlege, ob ich so tun sollte, als suchte ich nach einer Toilette, entschließe mich dann aber, mutig zu sein.
    Erst an der Bar fällt mir ein, dass ich keinerlei Ahnung habe, was man als einsame Frau in einem Alte-Männer-Pub wie diesem denn bestellen könnte. Die Frau am Tresen sieht mich ungeduldig an.
    „What are you having, love?“
    Der dunkle Raum und die Stille, die jeden Ton mit völliger Klarheit von der einen Wand zur anderen schallen lässt, machen mich so nervös, dass ich kaum ein Wort rausbringe.
    „A Baileys, please.“
    Die Barfrau guckt mich schräg an. Vielleicht wartet sie auf eine Mengenangabe? Ich füge schnell „a pint“ hinzu, was mir in der Eile die einzige geläufige Maßeinheit für Alkohol im Englischen ist.
    „A pint of Baileys?“ , fragt sie nach. Das erste unterdrückte Schnaufen kommt aus der Ecke neben dem Fenster, wo ein ziemlich struppig aussehender Mann mit Schirmmütze sitzt, dann bricht der Rest des Pubs in schallendes Gelächter aus.
    „Man bestellt ein Pint Bier, aber einen Shot Baileys.“ Dabei zeigt sie auf ein 0,6-Liter-Glas, in das tatsächlich eine ganze Menge Baileys reinpassen würde.
    „Das hier ist ein Pint-Glas. So viel wollen Sie doch wohl nicht wirklich, oder?“
    „Oh, nein, natürlich nicht“, sage ich leise und wünsche mir, ich wäre doch auf der Türschwelle wieder umgedreht.
    „Na, dann eben einen Shot Baileys, aber einen großen, bitte.“
    Die alten Männer lachen weiter, und einer am Fenster ruft: „Würde die ja zu gern mal nach einem Pint Baileys sehen! Müsste sich anschließend wahrscheinlich eine Woche frei nehmen!“
    Ich zahle und trage mein kleines Glas in den Biergarten, der zum Glück völlig leer ist, so dass mir weitere hämische Bemerkungen erspart bleiben. Was für eine dumme Idee, so ganz allein in den erstbesten Pub zu gehen! Wenn ich erst mal eine Wohnung gefunden habe und zu arbeiten beginne, werde ich schon genügend Leute kennenlernen. Ich hätte mehr Geduld haben sollen.
    So sitze ich alleine auf der feuchten Bank und schaue mich um. Zum Glück hat der Regen aufgehört. Auf den Tischen um mich herum stehen Massen an leeren und halbleerenPint-Gläsern. Ich vergewissere mich, dass mich vom Innenraum des Pubs aus niemand sehen kann, und lasse dann ein leeres, relativ sauberes Glas in meine Tasche gleiten.
    Endlich werde ich mir wieder die Haare mit warmem Wasser waschen können! Aus einem unerfindlichen Grund hat nämlich mein Hotel, wie fast überall in England, nicht einen Wasserhahn am Waschbecken und an der Badewanne, sondern jeweils einen für das heiße und einen für das kalte Wasser. Und das bedeutet, dass man beim Waschen die Wahl hat zwischen eiskaltem oder nahezu kochendem Wasser.
    Aber von nun an kann ich in meinem Pintglas das Wasser aus beiden Hähnen mischen und habe somit diese kleine englische Unzulänglichkeit schon mal besiegt. Ich freue mich noch über meinen Scharfsinn, als einer der Kellner in den Biergarten tritt und beginnt, die leeren Gläser abzuräumen. Ein komischer Zufall, denke ich mir, dass er gerade jetzt erscheint, wenn er, der Menge an Gläsern nach zu urteilen, dies seit Stunden nicht getan hat. Bin ich doch beobachtet worden? Fliegt mein Diebstahl auf und ich aus England raus?
    Stattdessen sehe ich, wie der riesige Stapel aufgetürmter Biergläser sich fast wie in Zeitlupe im Arm des Kellners immer weiter zur Seite neigt, die oberen Gläser herauszurutschen drohen und der Turm sich schon fast horizontal zur Erde biegt. Der Kellner sieht es auch, versucht, das Unheil mit seinem anderen Arm zu verhindern und die Gläser zu halten, aber es ist zu spät. Die Gläser fallen auf den Boden und
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