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Ein Jahr in London

Titel: Ein Jahr in London
Autoren: Anna Regeniter
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bekommen wir hier nach dem Baden keine kalten Füße, denke ich mir.
    „Und Duschen mögen sie auch nicht?“
    „Wenn du duschen willst, meldest du dich besser im Fitnesszentrum an! Da gibt es welche.“ Ich werde also meine Haare weiterhin mit Hilfe meines Pint-Glases waschen müssen. Man muss sich halt den Gebräuchen des Landes anpassen.
    Wir gehen zurück zu Felices Wohnung, die ein ganzes Stück größer ist als meine. Er hat sogar eine separate Küche, aber viel Platz bleibt nicht: Überall stehen Kleiderstangen herum, an denen Jacken und Mäntel hängen.
    „Entschuldige das Chaos, ich habe ein Kleidergeschäft auf dem Camden Markt gleich um die Ecke von hier und habe gerade eine Lieferung aus Sizilien bekommen.“
    Ich schaue mir gerade einige der Mäntel genauer an, als plötzlich die Kleiderstangen anfangen, sich auf und ab zu bewegen, die Gläser auf Felices Tisch zu klirren beginnen und der Boden unter meinen Füßen bebt. Ich schaue Felice entsetzt an.
    „Keine Sorge, das ist nur die U-Bahn, die direkt unter unserem Haus herfährt.“

    In der Woche darauf findet mein Vorstellungsgespräch an der Parklands High im nördlichen Vorort Finchley statt. Ich ziehe den Hosenanzug und die spitzen Schuhe an, die ich mir extra für diesen Anlass gekauft habe, und mache mich auf den Weg zur U-Bahn. Von der Haltestelle Finchley Central aus laufe ich das letzte Stück zu der direkt an einem Krematorium gelegenen Schule. Die Rezeptionistin führt mich gleich zum Zimmer des Direktors, der mich schon erwartet.
    „Hallo, Anna, nett, Sie kennenzulernen!“
    Dr Clarkson reicht mir die Hand und guckt mich über seine Brillengläser hinweg an. Er ist ein stämmiger, kleiner Mann mit dem Gesichtsausdruck einer Bulldogge – die Art von Mensch, mit dem man sich am besten nicht anlegt.
    „Nett, Sie kennenzulernen, Herr ...“
    Soll ich ihn mit Vornamen anreden? Aber irgendwie bringe ich es nicht über die Lippen, diesen furchteinflößenden Mann Roddy zu nennen. Und vielleicht redet er mich auch nur mit Anna an, weil mein Nachname für ihn völlig unaussprechlich ist.
    Wenigstens erledigt sich im Englischen das Problem, ihn eventuell duzen zu müssen. Entgegen der irrtümlichenMeinung vieler Deutscher entspricht das Englische „you“ keineswegs dem deutschen „du“, sondern ist die zweite Person Plural, die dann nach dem Vorbild des französischen „vous“ für die höfliche Anrede auch einzelner Personen verwendet wird. Dementsprechend haben die Engländer keine andere Wahl, als sich ununterlassen zu siezen, beziehungsweise sich zu ihrzen. Ein weiteres Zeichen ihrer unübertroffenen Höflichkeit!
    „Bitte setz dich doch.“
    Neben Dr Clarkson sind außerdem der stellvertretende Direktor, Mr Tucker, und die Fachleiterin der Sprachabteilung, Miss Miller, anwesend. Miss Miller ist eine hochgewachsene, blonde Frau Ende dreißig, deren eng aneinander liegende Augen und spitzes Kinn ihr ein gehässiges Aussehen geben. Obwohl ich weiß, dass ich die einzige für diese Stelle geladene Kandidatin bin – Deutschlehrer sind begehrt in London –, wird mir vor Nervosität abwechselnd heiß und kalt und mein einziger Trost ist, dass die Schule genauso verzweifelt eine Deutschlehrerin braucht wie ich den Job.
    Die drei sitzen mir in einer Reihe gegenüber und stellen abwechselnd die Fragen. Ich erzähle ihnen von meiner Begeisterung für die deutsche Sprache und Kultur und von meiner großen Lust, diese an die englischen Schulkinder weiterzugeben. Was meine größte Schwäche sei? Ich wäre so arbeitsam, dass ich es oft schwer fände, einen Strich unter das Geschaffte zu machen, und ich würde ebenso viel von meinen Schülern erwarten. Das habe ich in einem Ratgeber für das perfekte Vorstellungsgespräch gelesen und soweit ich es abschätzen kann, sind meine drei Vernehmungsbeamten von meinen Antworten angetan.
    „Und jetzt kommen wir zum französischen Teil des Gesprächs“, verkündet Miss Miller dann plötzlich mit einem süßlichen Lächeln. Auf die Frage am Telefon, ob ich bereit sei, auch etwas Französisch zu unterrichten, hatte ich erwidert, dass ich Französisch zum letzten Mal in der Schule gesprochen hätte.
    „Ich habe gehört, der Sprachunterricht an den deutschen Gymnasien sei sehr gut, das wird sicherlich reichen für den Anfängerunterricht.“
    An dieser Stelle hätte ich natürlich sofort hinzufügen sollen, dass ich es nach zwei Jahren mit einer Fünf als Endnote abgewählt hatte, doch erschien mir die
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