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Ein Hueter erwacht

Ein Hueter erwacht

Titel: Ein Hueter erwacht
Autoren: Vampira VA
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ihre Stimme ihn zurück zur Heimstatt befohlen hatte. Aber es war ihm nicht allein deshalb vertraut; ihm war vielmehr so, als kenne er es schon seit langer, seit sehr langer Zeit .
    Stumm musterten sie einander eine Weile lang. Dann, wie auf ein geheimes Zeichen hin, setzten sie den Weg fort, bis sie sich am Altar gegenüberstanden. Der Hüter fand in den so seltsam bekannten Zügen des anderen nichts, was ihm verraten hätte, daß die Vertrautheit auf Gegenseitigkeit beruhte.
    Schließlich senkte er den Blick, und jetzt erst sah er das fleischfarbene Etwas, das der andere in Händen hielt: die Maske des Hüters. Er zweifelte nicht daran, daß sie der seinen absolut gleichsah. Den Vampirsippen würde der Amtswechsel verborgen bleiben; die Maske machte einen Hüter dem nächsten gleich. Jeder Nachfolger konnte das Ansehen, das sein Vorgänger sich erworben hatte, nutzen und darauf bauen.
    Die Oberfläche des Blockes wies eine Aussparung auf, in die der Fuß des Kelches sich paßgenau fügte. Von genau dieser Stelle hatte der Hüter den Gral einst genommen, und dort stellte er ihn nun wieder ab. Einen zeitlosen Moment lang hielt er den Kelch noch mit beiden Händen umfaßt, als wollte er ihn jetzt, im allerletzten Augenblick, doch nicht abgeben.
    Schließlich tat er es doch. Seine Hände glitten wie kraftlos geworden an der splittrigen Wandung des Lilienkelchs ab und - - etwas geschah!
    Weder war es zu sehen, noch wurde es in sonst einer Weise augenfällig, und der Nachfolger im Amt des Hüters mochte es nicht einmal bemerkt haben.
    Was da vorging, war allein dem nunmehr einstigen Hüter bestimmt. Und nur er registrierte es. Obschon auch er sich nicht erklären konnte, was es wirklich war und wie es vonstatten ging.
    Es war - -  Wissen.
    Mit einemmal, in dem Augenblick, da sein körperlicher Kontakt zum Kelch abriß für alle Zeit, wußte er um Dinge, von denen er nie zuvor erfahren hatte! Und doch war es so, als wäre das Wissen darum schon immer in ihm gewesen - nur war es jetzt erst geweckt worden.
    Durch den Kelch? Oder vielmehr die Macht, die dem Gral innewohnte - die im Grunde nichts anderes tat, als sich darin zu verbergen?
    Der ehemalige Hüter wußte jetzt auch darüber alles.
    Er hob den Blick, sah seinen Nachfolger an - und kannte dessen Namen. So wie er die Namen all derer kannte, die in den versiegelten Kammern noch immer ruhten und es noch lange tun würden. So lange, bis auch der letzte von ihnen tausend Jahre lang den Lilienkelch verwaltet und den Einfluß der Alten Rasse gemehrt haben würde. Dann erst, wenn dereinst der letzte Hüter in den Dunklen Dom zurückkehrte .
    Ein Lächeln wehte schattengleich über das Gesicht des ersten Hüters. Für einen flüchtigen Moment zeigte der Nachfolger sich darob erstaunt, doch er schwieg und streifte seine Maske über, befestigte sie an seiner Haut und griff dann nach dem Kelch.
    »Gehe nun hin und walte deines Amtes«, sagte sein Vorgänger, »zum Wohle unseres Volkes - und der Hohen.«
    »Der Hohen?« fragte der andere.
    Der erste Hüter unterdrückte ein Lächeln. Natürlich, der andere wußte nichts anzufangen mit den Hohen; wußte nicht, daß er selbst einer von ihnen war. Auch ihm selbst war jede Erinnerung an ihr früheres Dasein abgegangen, damals, vor tausend Jahren . Erst jetzt hatte er es zurückerhalten, jenes Wissen um Vergangenes, und mehr noch: das Wissen um die Zukunft - um ihre Zukunft .
    »Gedulde dich und tue, was deine Aufgabe ist«, erwiderte er schließlich. Auf seine Handbewegung hin wandte der andere sich ab, ging durch den Dom und entschwand im Dunkel.
    Auch der erste Hüter ließ den Altar hinter sich. Entlang der versiegelten Kammern schritt er seiner eigenen zu. Im Vorübergehen sah er die Zeichen auf den Türen; vor tausend Jahren waren sie ihm fremd gewesen, jetzt jedoch verstand er sie zu lesen. Ihr Sinn verknüpfte sich mit dem, was er im Moment der Kelchübergabe erfah-ren hatte, und wieder lächelte er, so düster und abseitig, daß einem Menschen, hätte er es gesehen, angst und bange geworden wäre .
    In seiner angestammten Kammer angelangt, legte der einstige Hüter sich hin und schloß die Augen. Sein neues und doch so altes, wahrhaft uraltes Wissen würde ihm Traum sein in einem Schlaf, der lange Zeit währen sollte, viele tausend Jahre lang . Jahrtausend um Jahrtausend verstrich. Und doch endete der Schlaf des ersten Hüters zu früh. Er wußte es in dem Moment, da er die Augen aufschlug! Weil etwas ihn geweckt hatte.
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