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Ein Hueter erwacht

Ein Hueter erwacht

Titel: Ein Hueter erwacht
Autoren: Vampira VA
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geworden, als wäre sie sein eigenes Antlitz, das taub geworden darunter lag.
    Warum er sie trug, diese Frage hatte er sich nie gestellt. Erst jetzt kam sie ihm in den Sinn - und vielleicht würde die Maske selbst sie ihm ja beantworten.
    Hastig riß er sich die dünne Haut vom Gesicht. Die Nähte, die Maske und Fleisch miteinander verbunden hatten, rissen, ohne daß der Hüter Schmerz gespürt hätte. Die winzigen Wunden in seiner Haut schlossen sich in der Art und Dauer eines Lidschlags. Ein feines Prickeln belebte sein eigenes, so lange verstecktes Gesicht.
    Mit beiden Händen spannte er die Maske und sah in ihre so gestrafften Züge, die leer und ausdruckslos wirkten, tot eben.
    »Was redest du da?« fragte er. »Und wer bist du? Mit wessen Stimme sprichst du?«
    Der leere Mund, durch dessen Spalt er die Mähne seines Pferdes sehen konnte, bewegte sich, redete ohne Zunge und doch klar und deutlich.
    »Deine Zeit ist um«, wiederholten die Lippen. »Kehre zurück in die Heimstatt.«
    »Aber . weshalb?« Nie hatte der Hüter die Kälte des Todes erfahren. Jetzt griff sie nach ihm, nahm ihn in ihre gewaltigen Klauen, grub sich tief in ihn und ließ sein ohnedies schon kaltes Fleisch gefrieren, wie ihm schien.
    Die Maske - veränderte sich. Die Ausdruckslosigkeit schwand und machte fremden Zügen Platz.
    Der Hüter sah in das Gesicht eines Vampirs, dem er nie zuvor begegnet war. Dennoch war etwas unbestimmbar Vertrautes daran; etwas, das den Hüter - beruhigte . erleichterte?
    »Dies ist dein Nachfolger«, erklärte die Maske dumpf, nun aus dem Mund des Fremden. »Übergib ihm den Kelch. Deine Arbeit ist getan.«
    Einen zeitlosen Moment lang wollte sich etwas im Hüter des Kelches aufbäumen; etwas, dessen Kraft im Laufe von tausend Jahren nachgelassen hatte und das doch nicht gänzlich vergehen wollte. Doch der Hüter schloß die Augen, konzentrierte sich ganz auf dieses Etwas tief in ihm - und er bezwang es.
    Ergeben nickte er. »So gehe ich denn.«
    Als wäre nichts geschehen, befestigte er die Maske wieder über seinem Gesicht. Das kaum erwachte Gefühl wich aus seinem Gesicht, Taubheit und Kälte krochen ins Fleisch zurück. Dann ließ der Hüter sein Pferd kehrtmachen und trieb es den Weg hinab, ohne noch einmal zum Versammlungsort der hiesigen Sippe aufzusehen.
    Seine Arbeit war getan, seine Zeit war um. Die eines anderen würde beginnen, und er würde das Werk fortsetzen ...
    Längst jenseits der Mauern und nahe des Flusses Skamandros machte der Gralshüter noch einmal Halt. Von der Anhöhe herab übersah er die Stadt.
    Er hoffte, daß sein Nachfolger sich ihr in gleicher Weise widmen würde, wie er es stets getan hatte. Sie war es wert, im Auge behalten zu werden. Die Zukunft würde ihre Macht noch mehren. Der Hüter war sich dessen gewiß, daß diese Stadt noch eine gewichtige Rolle spielen würde in der Weltgeschichte - und nicht zuletzt würden die Vampire maßgeblichen Einfluß darauf haben.
    Auf das Schicksal Trojas .
    *
    Wie mit eisigen Klingen hieb der Wind in dieser für jeden Menschen unerreichbaren Höhe nach dem Hüter. Der Schmerz war von solcher Intensität, daß er selbst einem Wesen wie ihm zumindest doch unangenehm war. Dennoch ließen die ledernen Schwingen nicht nach in ihrer gleichförmigen Bewegung; sie schlugen weiter durch die vor Kälte starr scheinende Luft und trugen den bepelzten Leib immer höher hinauf, den im Licht des vollen Mondes silberglänzenden Gipfeln des höchsten Berges weit und breit zu.
    Vor tausend Jahren hatte der Hüter die Heimstatt im Ararat verlassen. Er entsann sich noch gut jener Nacht, da er über die Welt gekommen war. Unberührt und unschuldig war sie ihm erschienen, und doch auch einem fruchtbaren Acker gleich, der nur darauf war -tete, bestellt zu werden. Und eben das hatte er getan. Des ersten Hüters Soll war nunmehr erfüllt. Ein anderer mochte sich fortan seiner Saat annehmen, auf daß sie fürderhin gedieh und sich mehrte.
    Ein eisiger Windstoß fuhr heulend und fauchend über die Felsgrate, packte die widernatürlich große Fledermaus und brachte sie für Augenblicke ins Trudeln. Ein für Menschen unhörbarer Laut fuhr aus ihrem aufgerissenen Maul, erschrocken und wütend in einem, als der Lilienkelch ihren Klauen entgleiten wollte und ins Bodenlose zu stürzen drohte. Hastig faßte der Hüter nach, schloß seine Krallen so fest um den Stiel des Kelches, als wollte er sie in das Material, das weder Stein noch Metall war, hineinbohren. Dann hielt er
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