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Ein Hueter erwacht

Ein Hueter erwacht

Titel: Ein Hueter erwacht
Autoren: Vampira VA
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den Gral wieder sicher und trug ihn weiter mit sich, den höchsten Zinnen des Berges zu.
    Wären einem Menschen Flügel gewachsen und hätten sie ihn in solche Höhe zu tragen vermocht, so wären seine Augen doch blind gewesen für den Anblick, der sich dem Hüter nun, beinahe schon am Ende seiner Reise, erschloß. Er erfaßte ihn mit den Sinnen des Tieres, dessen Gestalt er nutzte, weil der Gipfel des Berges auf anderem Wege nicht zu erreichen war.
    Die Flanke des Ararat war narbenzerfurcht wie die Haut eines altgedienten Kriegers und mit steinernen Geschwüren übersät wie der Leib eines Sterbenden, den alle Seuchen dieser Welt zugleich befallen hatten. Dunkle Spalten wanden sich zwischen aufragenden Kämmen in den Fels, und die Nacht füllte sie mit Finsternis, als würde flüssiges Pech hineingegossen.
    Einer dieser Klüfte galt die besondere Aufmerksamkeit des Hüters. Dicht unterhalb des schneegekrönten Hauptes des Ararat spaltete sie den Fels. Keine Auffälligkeit unterschied sie von anderen Kerben, die wie mit der Axt eines Giganten in den Stein geschlagen aussahen. Dieser einen jedoch wandte der Kelchhüter sich zu. Als er sich unmittelbar darüber befand, legte er die Schwingen an, und wie ein fallender Stein stürzte er der Schwärze drunten entgegen. Ganz so, als söge sie ihn und den Kelch an, tauchte er in die Lichtlosigkeit der Felskluft ein, und weiter ging sein rasender Fall einen schroff-wandigen Schlot hinab, so sicher jedoch, daß kein vorstehender Grat den pelzigen Leib oder die Flügel der Fledermaus auch nur berührte, geschweige denn verletzte, obschon das haltlos tiefer und tiefer stürzende Wesen der Felswandung ein ums andere Mal gefährlich nahe kam.
    Dann plötzlich - ganz so, als wäre ihm der Befehl dazu eingeflüstert worden - spreizte der Hüter die Schwingen. Sofort staute sich eisige Luft unter den ledernen Häuten. Die Fledermaus wurde ein Stückweit wie auf unsichtbarem Polster federnd in die Höhe getragen, dann glitt sie von eigenem Fügelschlag getragen weiter, tief hinein in ein Labyrinth aus Stollen und Spalten, die den Berg durchzogen wie versteinertes Aderwerk - - das schließlich im hohlen Herzen des Ararat mündete: im Dunklen Dom, der die Heimstatt der Hüter war.
    Der Raum war riesig in seinen Ausmaßen, gewaltiger als jeder Palast und Tempel, den der Hüter auf seiner tausendjährigen Wanderung gesehen hatte. Die Form des Domes war der eines Vulkankegels nachempfunden. Die Felswände ragten steil auf, um sich weit über dem Boden zu treffen; doch lag dieser Punkt so hoch droben, daß nicht einmal des Hüters Blick ihn auszumachen imstande war.
    Bis auf einen altarartigen Block in der Mitte war der Dunkle Dom leer. Ringsum führten verschlossene und versiegelte Gänge ab, die in Kammern mündeten, wie der Hüter wußte. Schließlich war er selbst in einer solchen Kammer erwacht, und der Weg, der ihn damals in den Dunklen Dom geführt hatte, lag als einziger von allen offen da. Tausend Jahre waren spurlos vorübergegangen an diesem Ort.
    Nun wieder in seiner ursprünglichen Gestalt, wandte der Hüter sich dem Altar inmitten des Felsendomes zu. Grünliches Licht, das aus den Wänden selbst sickerte, belegte alles mit fahlem Schein. Breite Stufen, die sich bei der Entstehung des Domes zufällig gebildet haben mochten, führten zu dem altarähnlichen Block hinauf.
    Den Kelch mit beiden Händen umfassend, schritt der Hüter dorthin, langsamen, gemessenen Schrittes.
    Er befand sich gerade auf halbem Wege, als ein Geräusch ihn innehalten ließ - ein Knirschen und Reißen wie von uraltem Holz, das beinahe schon versteinert war. Ohne Erschrecken richtete der Hüter den Blick in die Richtung, aus der die Laute zu ihm drangen.
    Einer der Gänge, die zu den Kammern der Hüter führten, öffnete sich. Das Holz löste sich aus dem Verbund mit dem Fels ringsum -und verschwand. In der nahezu runden Öffnung, die sich dahinter auf tat, erschien eine Gestalt, deren Details das Dämmerlicht noch nicht preisgab. Erst als sie aus dem Gang trat und schweigend näherkam, erkannte der Hüter Einzelheiten. Die Kleidung des anderen glich jener, die er getragen hatte, nachdem er einst erwacht war - ein dunkles, schlichtes Gewand, das bis zum Boden reichte.
    Dann, als der andere so wie er die Hälfte der Strecke zum Altar hin zurückgelegt hatte, konnte der Kelchhüter dessen Gesicht ausmachen. Es war ihm nicht fremd, entsprach es doch genau jenem, das die Maske ihm vor Tagen gezeigt hatte, als
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