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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse
Autoren: Ann Granger
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doch wohl zu Boden gerutscht, oder? Meinen Sie nicht?«
    »Oh, allerdings, das ist er«, räumte ich widerwillig ein.
    »Es scheint offensichtlich, wenn Sie mich fragen. Ich wiederhole, was hat diesen Pathologen dazu gebracht, seine Meinung zu ändern? Es erscheint mir höchst ungewöhnlich, dass er den Todeszeitpunkt von fünf Uhr nachmittags um volle anderthalb Stunden nach vorne verlegt.«
    »Der Pathologe hat bei seiner ersten Einschätzung die sehr niedrige Temperatur im Zimmer des Toten nicht berücksichtigt«, sagte ich vorsichtig. »Kälte kann das Eintreten der Totenstarre verzögern. Und es war das Fehlen von Totenstarre bei dem Toten, das ihn zunächst veranlasste, den Todeszeitpunkt auf fünf Uhr zu veranschlagen.«
    Jetzt wusste er, worauf ich hinauswollte, und er war bereit.
    »Ich bin kein Strafverteidiger«, sagte Tapley mit einem Anflug von Verachtung. »Aber ich habe häufiger Kollegen über ähnliche Fälle diskutieren gehört. Aus ihren Unterhaltungen weiß ich, dass ein Leichnam, der an einem kalten Ort liegt, bemerkenswert beweglich bleiben kann , wie Sie sagen. Kann, muss aber nicht. Es gibt keine absolute Gesetzmäßigkeit. Wenn Ihr Pathologe in den Zeugenstand müsste, würde er das einräumen. Es ist unklug von ihm, allein basierend auf der im Zimmer herrschenden Temperatur den Todeszeitpunkt zu revidieren.«
    Ein Rascheln in der Ecke, als Biddle die Seite seines Notizblocks umblätterte, veranlasste Tapley zu einem Blick über die Schulter.    
    »Warum schreibt Ihr junger Kollege alles mit?«, erkundigte er sich in scharfem Ton.
    »Das ist so üblich, Mr. Tapley.«
    Er ließ sich zu einem schwachen Lächeln hinreißen und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »So, so, so«, sagte er. »Ich könnte beinahe den Eindruck gewinnen, Sie wollen mich des Mordes an meinem Cousin beschuldigen, Inspector.«
    »Da könnten Sie Recht haben, Sir.«
    »Es wäre töricht von Ihnen. Selbst wenn mein Cousin vor fünf Uhr gestorben sein sollte – was nicht feststeht, trotz der Unentschlossenheit Ihres Pathologen –, ich war …«
    »Im Gericht hat man Sie nach zehn vor drei nicht mehr gesehen«, unterbrach ich ihn. »Ein Zeuge war erkrankt, und die Verhandlung, in der Sie als Anwalt auftraten, wurde vertagt. Das war um halb drei. Sie unterhielten sich noch ein paar Minuten mit einem Kollegen, dann verließen Sie das Gebäude.«
    »Sie haben gründlich gearbeitet, Inspector«, sagte Tapley nach kurzer Pause. »Und Sie haben einen Zeugen, der mich beim Verlassen des Gerichtsgebäudes gesehen hat?«
    Den hatte ich nicht. Er hatte mit traumwandlerischer Sicherheit eine Schwachstelle gefunden. Es würde nicht einfach werden, so viel war jetzt schon klar. »Nein, Sir. Aber niemand im Gebäude hat Sie nach diesem Zeitpunkt kurz vor drei noch gesehen oder mit Ihnen gesprochen.«
    »Mit anderen Worten, Sie haben keinen Zeugen. Ts, ts, Inspector, schon wieder eine Vermutung. Eine Hypothese, die Sie nicht beweisen können. Ich nehme an, als Nächstes werden Sie behaupten, dass ich in eine Kutsche gestiegen und sogleich zu dem Haus gefahren bin, in dem mein Cousin gelebt hat.«
    »Jawohl, Sir, ich denke, genau das ist passiert. Ich nehme an, Sie haben dem Kutscher Waterloo Station als Fahrtziel genannt, weil Ihnen das gestattete, ihn um größtmögliche Eile zu bitten, ohne dass es verdächtig erschien. Sie erzählten ihm, Sie müssten einen Zug bekommen. Hätten Sie die Straße als Ziel genannt, in der Ihr Cousin gelebt hat, hätte er sich später möglicherweise an Sie oder die Adresse erinnert – falls wir ihn gefunden hätten. Wir suchen übrigens nach ihm. Aber Sie hatten sich ausgerechnet, dass kein Kutscher einen Fahrgast von vielen in Erinnerung behält, die alle mehr oder weniger schnell zum Bahnhof wollen. Das Fahrtziel ist zu gewöhnlich.
    Sie können die Tat nicht geplant haben, weil Sie nicht wissen konnten, dass das Gericht sich vertagen würde. Doch sie hatten vor, Ihren Cousin zur Rede zu stellen, und zwar schon bald. Sie hatten erfahren, dass er nach London zurückgekehrt war. Ich denke, Sie hatten auch erfahren, dass Ihre Nichte, Miss Flora, sich mit ihrem Vater getroffen hatte. Ich nehme an, Ihr Kutscher hat Ihnen von der Eskapade der jungen Lady erzählt, die er verkleidet als Junge und begleitet von einer Freundin an einen Ort ganz in der Nähe des Hauses gefahren hatte. Der Kutscher hat es Ihrer Frau gestanden. Ihre Frau befürchtete, Sie könnten es ebenfalls erfahren, und befahl dem
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