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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse
Autoren: Ann Granger
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Mantel mit dem charakteristischen Gehstock und blickte auf mich hinunter mit einem Ausdruck von Triumph, den ich nur schwer ertragen konnte. Er war ein Mörder! Ich durfte ihn nicht gewinnen lassen! Ich würde ihn nicht gewinnen lassen. Wir waren wie zwei Duellanten, die einander im Dunst der Morgendämmerung gegenüberstanden, die Pistolen gezogen und jeder nur mit einem einzigen Schuss. Doch er hatte seinen Schuss bereits abgefeuert. Jetzt war ich an der Reihe. Jetzt kam es darauf an, ob seine Nerven durchhielten – oder meine Entschlossenheit.
    »Ihr Auftritt ist beeindruckend, Mr. Tapley«, sagte ich. »Aber das gehört vermutlich zu Ihrem Handwerk, habe ich Recht? Sie haben mich schon bei unserer ersten Begegnung beeindruckt. Es wäre durchaus möglich, dass ein Droschkenkutscher sich an einen so distinguierten Gentleman erinnert. Genau dieses Auftreten war es auch, das Mrs. Jamesons Aufmerksamkeit fesselte, als sie durch ihr Fenster nach draußen sah – Ihr distinguiertes Auftreten, Mr. Tapley. Deswegen war Mrs. Jameson so sicher, Sie wiederzuerkennen, als sie Sie im Zug sah. Insbesondere erwähnte sie Ihren perfekt sitzenden Gehrock und …«
    In diesem Moment sah ich es. Es dauerte nur einen Sekundenbruchteil, doch ich sah das Erschrecken in seinen Augen. Ich bemerkte das unfreiwillige Zucken seiner Schulter, als wollte er den Arm bewegen, doch er unterdrückte die Bewegung. Der Mantel!, dachte ich. Dieser perfekt geschnittene Gehrock … es muss irgendetwas mit seinem Gehrock zu tun haben …
    Ich durfte nicht riskieren, ihn gehen zu lassen. Wenn er etwas übersehen hatte, das ihn belasten konnte, dann würde er es korrigieren, sobald er Scotland Yard verlassen hatte. Es konnte kein Blutfleck sein – den hätte er sofort gesehen und zweifelsohne längst beseitigt. Was konnte sonst noch an diesem Mantel sein? Taschen, dachte ich. Er hat Taschen. Wäre es möglich …?
    Er hatte mir bereits zu verstehen gegeben, dass er mich für einen Narren und Dummkopf hielt, weil ich versuchte, ihm eine Straftat nachzuweisen. Da spielte es keine Rolle mehr, ob ich mich auch noch als Trottel entblödete.
    »Mr. Tapley«, sagte ich. »Wären Sie so freundlich, Ihre Manteltaschen auszuleeren und den Inhalt auf meinen Schreibtisch zu legen?«
    »Was?«, brüllte er, und mit einem Mal war seine Beherrschung dahin. »Sie wagen es, mich wie einen straffälligen Schuljungen zu behandeln? Wie einen gewöhnlichen Taschendieb?«
    »Wenn Sie die Güte hätten, Sir, meiner Bitte nachzukommen?«, beharrte ich in freundlichem Ton. Seine verlorene Contenance bestätigte meinen Verdacht, dass ich auf der richtigen Spur war.
    »Ich will verdammt sein, wenn ich das tue! Das wird Ihnen noch leidtun, Ross! Ich werde mich bei Ihren Vorgesetzten beschweren! Ich bin ein angesehener Mann von beträchtlichem Einfluss! Ich praktiziere als Anwalt und habe zahlreiche bedeutende Klienten, deren Angelegenheiten ich vor Gericht vertrete. Wenn sie davon erfahren, von dieser unsinnigen Anschuldigung, die Sie gegen mich erheben, werden sie Scotland Yard der Lächerlichkeit preisgeben, und Ihre Vorgesetzten werden alles andere als erbaut sein!«
    »Ich habe die Angelegenheit bereits mit meinem direkten Vorgesetzten besprochen, Superintendent Dunn, bevor ich Sie bitten ließ, in den Yard zu kommen, Sir. Mr. Dunn ist in diesem Augenblick wegen genau dieser Angelegenheit in einer Besprechung mit dem stellvertretenden Commissioner. Es ist nicht ungewöhnlich, Mr. Tapley, dass gegen Ende einer Ermittlung, kurz vor der entscheidenden Enthüllung, eine einflussreiche Persönlichkeit versucht, den ermittelnden Beamten mit der Drohung einer Beschwerde bei seinen Vorgesetzten einzuschüchtern.«
    Tapley setzte eine finstere Miene auf. Seine Strategie war nicht aufgegangen, und er wusste es. Langsam und mit deutlich zur Schau gestelltem Missmut stellte er seinen Gehstock ab, schob die Hand in die rechte Manteltasche und zog ein Taschentuch sowie ein paar lose Münzen hervor. Er legte alles auf meinen Schreibtisch. Aus der linken Manteltasche zog er einen Bleistiftstummel, den er mit gelinder Überraschung betrachtete, bevor er ihn ebenfalls auf meinen Schreibtisch legte.
    »Wollen Sie auch meine Brieftasche? Sie ist in der Innentasche.« Er knöpfte den Mantel auf und zog eine feine schweinslederne Hülle hervor, die er zu den anderen Dingen legte.
    Nichts von alledem war, wonach ich suchte. »Die Vorgehensweise, Mr. Tapley, besteht darin, die Taschen
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