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Ein Gesicht so schön und kalt

Ein Gesicht so schön und kalt

Titel: Ein Gesicht so schön und kalt
Autoren: Mary Higgins Clark
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hatte das erste Feuer dieses Herbstes im Kamin
angefacht, und Grace hatte gerade erwähnt, der Wetterbericht
habe den ersten Frost der Saison für die Nacht angekündigt.
Sie waren ein gutaussehendes Paar von Anfang Sechzig, seit
fast vierzig Jahren miteinander verheiratet und durch Bande und
Bedürfnisse miteinander verknüpft, die über Zuneigung und
Gewohnheit hinausgingen. Im Laufe dieser Zeit schienen sie
sich fast ähnlich geworden zu sein: Beide hatten edle, von
reichem Haar gekrönte Gesichtszüge, wobei seines reinweiß und
natürlich gewellt war, ihres dagegen kurzgelockt und noch mit
Spuren von Braun gesprenkelt.
Es gab jedoch einen entscheidenden Unterschied hinsichtlich
ihrer Körper. Jonathan saß groß und aufgerichtet in einem hohen
Ohrensessel, während Grace auf einem Sofa ihm gegenüber
ruhte, eine Wolldecke über ihre nutzlosen Beine gebreitet, die
gekrümmten Finger regungslos auf dem Schoß, und mit einem
Rollstuhl in Reichweite. Seit Jahren schon war sie ein Opfer des
schweren Rheumaleidens Arthritis deformans, und ihre
Bewegungsfreiheit wurde dadurch zunehmend eingeschränkt.
Jonathan war ihr während der ganzen schweren Zeit zur Seite
gestanden. Als Seniorchef einer bedeutenden Kanzlei in New
Jersey, die auf hochkarätige Zivilrechtsfälle spezialisiert war,
hatte er auch seit etwa zwanzig Jahren einen Sitz im Senat des
Staates inne, jedoch wiederholt die Gelegenheit ausgeschlagen,
für das Gouverneursamt zu kandidieren. »Ich kann im Senat
schon genug an Nutzen oder Schaden stiften«, war sein häufig
zitierter Kommentar, »und außerdem glaube ich ohnehin nicht,
daß ich gewinnen würde.«
Alle, die ihn gut kannten, nahmen ihm seine Beteuerungen
nicht ab. Sie wußten, daß Grace der wahre Grund für seine
Entscheidung war, die Anforderungen eines Gouverneurslebens
zu vermeiden, und insgeheim fragte sich mancher, ob er nicht
doch einen vagen Groll darüber verbarg, daß ihr Leiden ihn an
einem weiteren Aufstieg behinderte. Falls es stimmte, ließ er es
sich freilich nie anmerken.
Als Grace nun an ihrem Martini nippte, seufzte sie. »Ich
glaube, daß dies meine liebste Jahreszeit ist«, sagte sie, »es ist
so schön, findest du nicht? An so einem Tag muß ich immer
daran denken, wie ich damals mit dem Zug von Bryn Mawr
nach Princeton gefahren bin, um mit dir die Footballspiele
anzuschauen, und wie wir zum Essen ins Nassau Inn gegangen
sind… «
»Und du bei deiner Tante übernachtet hast und sie extra
aufgeblieben ist, um sich zu vergewissern, daß du in Sicherheit
bist, bevor sie schlafen ging«, fuhr Jonathan mit einem
Schmunzeln fort. »Ich hab’ immer gebetet, daß der alte Drache
wenigstens einmal früher einschlafen würde, aber sie blieb
absolut auf Draht.«
Grace lächelte. »Sobald wir vor dem Haus vorfuhren, fing
schon das Licht am Eingang an zu blinken.« Dann blickte sie
besorgt auf die Uhr am Kaminsims. »Sind sie nicht spät dran?
Ich denke nicht gern daran, daß Kerry und Robin mitten in dem
schrecklichen Stoßverkehr unterwegs sind. Besonders nach dem,
was letzte Woche passiert ist.«
»Kerry ist eine gute Fahrerin«, beruhigte sie Jonathan. »Mach
dir keine Sorgen. Die beiden werden jede Minute hier sein.«
»Ich weiß. Es ist doch bloß… « Der Satz brauchte nicht
beendet zu werden; Jonathan verstand vollkommen. Schon seit
die damals einundzwanzigjährige Kerry zu Beginn ihres
Jurastudiums auf die Suchanzeige der Hoovers nach jemandem
zum Haushüten geantwortet hatte, war sie praktisch zur
Ersatztochter für sie geworden. Das war nun fünfzehn Jahre her,
und in dieser Zeit hatte Jonathan Kerry häufig mit Rat und Tat
für ihre Karriere beigestanden, zuletzt, indem er seinen Einfluß
spielen ließ, damit der Gouverneur ihren Namen auf die Liste
der Kandidaten für ein Richteramt setzte.
Zehn Minuten später kündete der willkommene Klang der
Türklingel Kerrys und Robins Ankunft an. Ganz wie Robin es
vorhergesagt hatte, wartete schon ein Geschenk auf sie, ein
Buch und ein Quizspiel für ihren Computer. Nach dem Essen
ging sie mit ihrem Buch ins Bibliothekszimmer und schmiegte
sich in einen Sessel, während die Erwachsenen noch beim
Kaffee sitzen blieben.
Als Robin nicht mehr in Hörweite war, fragte Grace ruhig:
»Kerry, diese Narben auf Robins Gesicht gehen doch bestimmt noch weg, oder?«
»Ich habe Dr. Smith genau dasselbe gefragt, als ich bei ihm
war. Er hat nicht nur praktisch dafür garantiert, daß sie
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