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Ein Gesicht so schön und kalt

Ein Gesicht so schön und kalt

Titel: Ein Gesicht so schön und kalt
Autoren: Mary Higgins Clark
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daß der Chirurg merkwürdig
geistesabwesend, ja völlig in seiner eigenen Welt versunken zu
sein schien. Manchmal, wenn sie mit ihm sprach, schaute er sie
ausdruckslos an, so als sei er in Gedanken ganz woanders.
Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Wie zu erwarten, war Dr.
Smith, nachdem er die Untersuchung von Barbara Tompkins,
der neuesten Empfängerin des Looks, abgeschlossen hatte, in
sein Privatbüro gegangen und hatte die Tür hinter sich
geschlossen.
Was trieb er nur da drin? überlegte sie. Er mußte doch wissen,
daß er mit seinen Terminen in Verzug war. Dieses kleine
Mädchen, Robin, saß schon seit einer halben Stunde allein im
Behandlungsraum 3, und im Wartezimmer waren noch weitere
Patienten. Doch sie hatte schon bemerkt, daß der Arzt immer,
nachdem ihn eine seiner besonderen Patientinnen aufgesucht
hatte, eine Weile Zeit für sich allein brauchte.
»Mrs. Carpenter… «
Erschrocken blickte die Krankenschwester von ihrem
Schreibtisch auf. Dr. Smith starrte auf sie herunter. »Ich finde,
wir haben Robin Kinellen lange genug warten lassen«, sagte er
vorwurfsvoll. Sein Blick war frostig hinter der randlosen Brille.
»Ich kann Dr. Smith nicht leiden«, sagte Robin trocken, als
Kerry den Wagen aus dem Parkhaus an der Ninth Street Ecke
Fifth Avenue herausfuhr.
Kerry schaute rasch zu ihr hinüber. »Wieso nicht?«
»Der ist gruselig. Zu Hause, wenn ich zu Dr. Wilson geh,
dann erzählt er immer Witze. Aber Dr. Smith hat nicht mal
gelächelt. Der hat so getan, als ob er sauer auf mich war. Er hat
so was gesagt, daß manche Leute Schönheit geschenkt kriegen
und andre sie erst erlangen, aber in beiden Fällen dürfte man sie
ja nie vergeuden.«
Robin hatte das auffallend gute Aussehen ihres Vaters geerbt
und war in der Tat eine kleine Schönheit. Es stimmte, daß dies
eines Tages zu einer Last werden könnte, doch weshalb sagte
der Arzt so etwas Merkwürdiges zu einem Kind? fragte sich
Kerry.
»Leider hab’ ich ihm erzählt, daß ich den Gurt noch nicht
richtig drin hatte, als der Lieferwagen in Daddys Auto
reingekracht ist«, fügte Robin hinzu. »Da hat Dr. Smith nämlich
angefangen, mir die Moralpredigt zu halten.«
Kerry spähte zu ihrer Tochter hinüber. Robin machte immer
ihren Sicherheitsgurt fest. Daß sie es diesmal nicht getan hatte,
bedeutete schlicht, daß Bob den Wagen in Gang gebracht hatte,
ohne ihr die Gelegenheit dazu zu geben. Kerry war bemüht, sich
keinen Ärger anmerken zu lassen, als sie nun sagte: »Daddy ist
wahrscheinlich ziemlich eilig aus dem Parkhaus rausgefahren.«
»Er hat halt nicht gemerkt, daß ich nicht genug Zeit hatte, den
Gurt anzuschnallen«, erwiderte Robin abwehrend, da sie die
leichte Gereiztheit in der Stimme ihrer Mutter sehr wohl spürte.
Kerry empfand einen tiefen Schmerz um ihre Tochter. Bob
Kinellen hatte sie beide im Stich gelassen, als Robin noch ein
Baby war. Inzwischen war er mit der Tochter seines
Seniorpartners verheiratet und Vater eines fünfjährigen
Mädchens und eines dreijährigen Jungen. Robin war völlig
vernarrt in ihren Vater, und wenn er mit ihr zusammen war,
überschüttete er sie mit Aufmerksamkeit. Aber er enttäuschte sie
so oft dadurch, daß er im letzten Moment eine Verabredung
wieder abblies. Da seine zweite Frau nicht gerne daran erinnert
wurde, daß er noch ein weiteres Kind hatte, wurde Robin nie zu
ihm nach Hause eingeladen. Daher kam es, daß sie ihre beiden
Halbgeschwister praktisch kaum kannte.
Und kommt es mal zu der seltenen Gelegenheit, daß er sein
Versprechen hält und endlich etwas mit ihr unternimmt, dann
sieh an, was dabei herauskommt, dachte Kerry. Sie bemühte
sich jedoch, ihren Zorn zu unterdrücken, da sie es für besser
hielt, das Thema nicht weiter zu verfolgen. Statt dessen erklärte
sie: »Warum versuchst du nicht eben ein Nickerchen zu machen,
bis wir bei Onkel Jonathan und Tante Grace sind?«
»Okay.« Robin schloß die Augen. »Ich wette, die haben ein
Geschenk für mich.«
Während sie darauf warteten, daß Kerry und Robin zum
Abendessen eintrafen, tranken Jonathan und Grace Hoover wie
gewohnt gemeinsam ihren Spätnachmittagsmartini im
Wohnzimmer ihres Hauses in Old Tappan, das am Ufer des
Lake Tappan lag. Die untergehende Sonne warf lange Schatten
über das friedliche Wasser. Die Bäume, die sorgfältig
zurechtgestutzt waren, um den Blick auf den See freizuhalten,
erglühten in ihrem farbenprächtigen Laub, das sie bald
preisgeben würden.
Jonathan
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