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Ein Fall für Kay Scarpetta

Ein Fall für Kay Scarpetta

Titel: Ein Fall für Kay Scarpetta
Autoren: Patricia Cornwell
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gewöhnt hatten, sah ich ihn an und unterdrückte einen Schrei.
    Ich konnte nicht atmen oder mich bewegen. Ich spürte die rasierklingendünne Schneide kalt an meiner Haut. Er war weiß, seine Gesichtszüge unter einem hellen Nylonstrumpf plattgedrückt. Es waren Schlitze für die Augen hineingeschnitten worden. Der Strumpf blähte sich auf, wenn er ausatmete. Die Fratze war grauenerregend und unmenschlich, nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt.
    "Einen Ton, und ich schneide dir die Kehle durch."
    Gedanken waren wie Funken, die schnell und in alle Richtungen flogen. Lucy. Mein Mund wurde pelzig, und ich schmeckte salziges Blut. Lucy, wach nicht auf. Spannung lief durch seinen Arm, durch seine Hand wie Elektrizität durch eine Hochspannungsleitung. Ich werde sterben.
    Tu es nicht. Du willst das nicht tun. Du mußt das nicht tun. Ich bin ein Mensch wie deine Mutter, wie deine Schwester. Du willst das nicht tun. Ich bin ein menschliches Wesen wie du. Ich kann dir so vieles sagen. Über die Fälle. Was die Polizei weiß. Du willst doch wissen, was ich weiß. Tu es nicht. Ein Mensch! Ich kann mit dir reden! Du mußt mich mit dir reden lassen! Bruchstückhafte Sätze. Unausgesprochen. Sinnlos. Ich war gefangen in der Stille. Bitte, faß mich nicht an. O Gott, faß mich nicht an.
    Ich mußte ihn dazu bringen, seine Hand wegzunehmen, mit mir zu reden. Ich versuchte meinem Körper zu befehlen, locker zu werden, sich zu entspannen. Es wirkte ein bißchen. Ich entspannte mich etwas, und er spürte es. Er lockerte den Druck seiner Hand auf meinem Mund, und ich schluckte ganz langsam.
    Er trug einen dunkelblauen Overall. Schweiß verfärbte den Kragen, und unter seinen Armen wurden die Flecken immer größer. Die Hand, die das Messer an meinen Hals hielt, steckte in der durchsichtigen Haut eines chirurgischen Handschuhs. Ich konnte den Gummi riechen. Ich konnte ihn riechen. Ich erinnerte mich an den Overall in Bettys Labor, roch den sirupartigen, fauligen Geruch in ihm, als Marino die Plastiktüte aufhielt...
    "Ist es der Geruch, an den er sich erinnert?" hörte ich es in meinem Kopf, als ob ein alter Film noch einmal abgespielt würde. Marinos Finger zeigte auf mich, als er zwinkerte: "Bingo..." Der Overall lag ausgebreitet auf dem Tisch im Labor, ein L oder XL mit Blutflecken, die herausgeschnitten worden waren...
    Er atmete schwer.
    "Bitte", sagte ich kaum vernehmbar, ohne mich zu rühren.
    "Halt's Maul!"
    "Ich kann Ihnen sagen ..."
    "Halt's Maul!" Brutal drückte er wieder stärker. Mein Kiefer würde zersplittern wie eine Eierschale.
    Seine Augen waren rastlos, wanderten umher, betrachteten alles in meinem Schlafzimmer. Sie verharrten an den Vorhängen, an den Kordeln, die daran hingen.
    Ich konnte sehen, wie er sie anstarrte.Ich wußte, was er dachte. Ich wußte, was er damit machen würde.
    Dann wanderten die Augen fiebrig zu dem Kabel meiner Nachttischlampe. Etwas Weißes flog aus seiner Tasche, und er stopfte es mir in den Mund und nahm das Messer weg.
    Mein Hals war so steif, daß er brannte. Mein Gesicht war taub. Ich versuchte, das trockene Tuch in meinem Mund nach vorn zu schieben, indem ich es mit meiner Zunge hin und her bewegte, ohne daß er es merkte. Speichel lief in meinen Rachen.
    Im Haus war es vollkommen still. In meinen Ohren dröhnte das Pochen meines Blutes. Lucy. Bitte, Gott. Die anderen Frauen hatten getan, was er wollte. Ich sah ihre blutunterlaufenen, toten Gesichter ...
    Ich versuchte, mich zu erinnern, was ich von ihm wußte, versuchte, irgend etwas aus dem zu machen, was ich von ihm wußte. Das Messer war nur Zentimeter von mir entfernt und blitzte im Licht. Stürz dich auf die Lampe, und wirf sie zu Boden. Meine Arme und Beine befanden sich unter den Decken. Ich konnte nicht mit dem Fuß treten, ich konnte nicht greifen oder mich bewegen. Wenn die Lampe auf den Boden fiel, würde es im Zimmer dunkel sein.
    Ich würde nichts sehen. Er hatte das Messer. Ich könnte versuchen, es ihm auszureden. Wenn ich nur reden könnte, dann könnte ich ihn zur Vernunft bringen. Ihre Gesichter, die Kabel, die in ihre Hälse schnitten. Dreißig Zentimeter, nicht mehr. Er wußte nichts von der Pistole.
    Er war nervös, unruhig, schien verwirrt. Sein Hals war gerötet und schweißgebadet, sein Atem ging heftig und schnell. Er schaute nicht auf mein Kissen. Er betrachtete alles um sich herum, aber er schaute nicht auf mein Kissen.
    "Eine Bewegung ..." Er berührte meinen Hals leicht mit der feinen Spitze des
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