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Ein Fall für Kay Scarpetta

Ein Fall für Kay Scarpetta

Titel: Ein Fall für Kay Scarpetta
Autoren: Patricia Cornwell
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in ihre Gedanken, und verfolgte auch mich. Mr. Niemand. Die Morde hatten vor zwei Monaten begonnen, es könnte also sein, daß er vor kurzem aus einem Gefängnis oder einer psychiatrischen Klinik entlassen wurde. In diese Richtung gingen die Vermutungen letzte Woche, aber es wurden täglich neue Theorien aufgestellt. Meine Theorie war von Anfang an dieselbe gewesen. Ich hatte den starken Verdacht, daß er noch nicht lange in der Stadt war, daß er es vorher irgendwo anders getan hatte und daß er nie in irgendeinem Gefängnis oder einer Klinik gewesen war. Er ging nicht ohne System vor, war kein Amateur und ziemlich sicher nicht "verrückt".
    Wilshire lag zwei Ampeln weiter unten auf der linken Seite, Berkley dann die nächste rechts. Ich sah die blauen und roten Lichter zwei Häuserblöcke weiter blinken. Der Teil der Straße, der hinter der Nummer 5602 lag, war beleuchtet wie ein Katastrophengebiet. Ein Krankenwagen stand mit laut brummendem Motor neben zwei nicht gekennzeichneten, blinkenden Einsatzfahrzeugen und drei weißen Funkstreifenwagen, deren Blaulicht auf vollen Touren lief. Das Team von Channel-12-News war eben eingetroffen. Blinkende Lichter zogen sich die Straße entlang, und mehrere Leute standen in Schlafanzügen und Hausmänteln vor ihren Häusern.
    Ich parkte hinter dem Aufnahmewagen der Fernsehgesellschaft, ein Kameramann lief gerade auf die andere Straßenseite hinüber. Mit gesenktem Kopf, den Kragen meines khakifarbenen Regenmantels hochgeschlagen, ging ich zügig den Kiesweg zum Eingang hinauf. Ich habe es schon immer gehaßt, mich in den Abendnachrichten zu sehen. Seit die Morde begonnen hatten, hatte mein Büro keine ruhige Minute mehr, die Reporter riefen immer wieder an und stellten immer dieselben taktlosen Fragen.
    "Wenn es ein Serienmörder ist, Dr. Scarpetta, heißt das nicht, daß es wahrscheinlich wieder passiert?"
    Als ob sie wollten, daß es wieder passierte.
    "Stimmt es, daß Sie bei dem letzten Opfer Bißwunden entdeckt haben, Doc?"
    Es stimmte nicht, aber egal, wie ich so eine Frage beantwortete, ich hatte keine Chance. Sagte ich "Kein Kommentar", dann meinten sie, es sei wahr. Sagte ich "Nein", dann stand in der nächsten Ausgabe: "Dr. Kay Scarpetta gibt an, daß auf den Leichen keine Bißwunden entdeckt wurden ..." Der Mörder, der die Zeitung wie jeder andere liest, bekommt Inspirationen.
    Die letzten Nachrichtenmeldungen schilderten die Tatsachen dramatisch und bis in beängstigende Details. Sie erfüllten längst nicht mehr den Zweck, die Bürger der Stadt zu warnen. Die Frauen, vor allem diejenigen, die allein lebten, wurden immer ängstlicher. Der Verkauf von Handfeuerwaffen und Sicherheitsschlössern war nach dem dritten Mord um fünfzig Prozent gestiegen, und der Tierschutzverein hatte bald keine Hunde mehr - ein Phänomen, das natürlich auch auf der ersten Seite der Zeitungen stand. Gestern hatte die skrupellose, aber preisgekrönte Polizeireporterin Abby Turnbull eine Kostprobe ihrer Dreistigkeit geliefert, indem sie in mein Büro kam, meinen Leuten einen Vortrag über Pressefreiheit hielt und erfolglos versuchte, an Kopien der Autopsieberichte heranzukommen.
    Die Kriminalberichterstattung in Richmond war aggressiv in einer alten Stadt mit zweihunderttausend Einwohnern in Virginia, die letztes Jahr vom FBI als die Stadt mit der zweithöchsten Mordrate pro Kopf in den Vereinigten Staaten geführt wurde. Es war nichts Ungewöhnliches, wenn Gerichtsmediziner aus ganz England für einen Monat in mein Institut kamen, um mehr über Schußwunden zu lernen. Es war nichts Ungewöhnliches, wenn ehrgeizige Polizisten wie Pete Marino dem Wahnsinn von New York oder Chicago entflohen, nur um festzustellen, daß Richmond noch schlimmer war.
    Was ungewöhnlich war, waren diese Sexualmorde. Der Durchschnittsbürger kann zu Drogen- und sonstigen privaten Schießereien keinen Bezug herstellen, ebensowenig zu einem Penner, der einen anderen wegen einer Flasche billigen Weins umlegt. Aber diese ermordeten Frauen waren die Kolleginnen, neben denen man bei der Arbeit saß, die Freundinnen, die man zum Einkaufsbummel oder zu einem Drink einlud, die Bekannten, mit denen man auf Partys plauderte, die Menschen, mit denen man in einer Schlange an der Kasse stand. Sie waren irgend jemandes Nachbarin, Schwester, Tochter, Geliebte. Sie lebten in ihren eigenen Häusern, schliefen in ihren eigenen Betten, wenn Mr. Niemand durch eines der Fenster stieg. Zwei Streifenbeamte standen an der
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