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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna
Autoren: Mirjam Pressler
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Vaters ging wohl nicht mehr so gut. Wie sollte sie auch, welcher Jude hatte in diesen Zeiten schon Geld für einen Pelzmantel? Und andere Leute kauften nicht mehr bei Juden. Bestimmt nicht bei Miras Vater, der auffallend jüdisch aussah.
    Aus Angst, man könnte ihr ihre Gedanken anmerken, senkte Hannelore den Blick und betrachtete nun die Schuhe, die auf dem schmutzig grauen, verrußten Boden standen, die Pumps mit den hohen Absätzen von Miras Mutter, ihre runden Waden in den Seidenstrümpfen. Natürlich bemerkte sie die Laufmasche, die sich an einem Bein dünn und etwas heller senkrecht nach oben zog, genau neben dem Schienbein, fast als wäre es Absicht, um zu betonen, wie auffallend gerade diese Beine waren. Die Schuhe von Miras Vater waren ein bisschen abgetreten, aber blank gewichst. Rachels Mutter trug zu ihren Halbschuhen seltsamerweise weiße Söckchen, genau wie Mira und Rachel. Bei einer Frau, die schon langsam grau wurde, sah das unpassend aus, irgendwie peinlich. Hannelore hätte am liebsten ihre eigenen Füße versteckt, wenn das möglich gewesen wäre. Ihre Kniestrümpfe waren blau verwaschen und mit gestopften Fersen. Sie sah auch, dass Mira und Rachel jede einen Koffer neben sich stehen hatten, zusätzlich zu dem obligaten Rucksack, und sie hörte, wie ihre Mutter sagte: »Ich werde Hannelore ihre Wintersachen nachschicken, wenn die Mädchen wirklich so lange dort in Dänemark bleiben.« Fast trotzig hörte sich das an.
    Hannelore wunderte sich. Sie wusste, dass sie keine Wintersachen besaß, der Mantel vom letzten Jahr war ihr zu klein geworden, die Winterschuhe auch, und ihre beiden einzigen Pullover hatte die Mutter gestern Abend in den Rucksack gepackt, dazu das gute Kleid, das ihr eigentlich schon zu eng geworden war, ihren zweiten Rock, Blusen, zwei Nachthemden, Strümpfe, Unterwäsche, ein paar Taschentücher und die Strickjacke, die sie ihr aus verschiedenfarbigen Wollresten gestrickt hatte. Zusammen mit zwei Waschlappen, einem halben Stück Seife und einem kleinen Handtuch war der Rucksack voll, aber viel mehr besaß sie auch nicht.
    Inzwischen war der Zug aus Dresden angekommen. Bella, Rosa und Estherke gesellten sich zu der Gruppe wartender Juden. Bellas Augen, klein hinter den Brillengläsern, waren dick und verweint, sie nickte den anderen nur kurz zu, dann drehte sie sich zur Seite. Estherke wirkte in ihrem mausgrauen Mantel noch unscheinbarer als sonst. Nur Rosa sah aus wie immer, rundlich, braunlockig, hübsch.
    Züge fuhren auf dem Bahnhof ein, Züge verließen ihn, ein scharfer Geruch nach Ruß und Rauch erfüllte die Luft, laute Rufe, Rattern und Zischen dröhnten in den Ohren. Reisende mit Koffern und Taschen drängten sich an der kleinen Gruppe vorbei, doch Hannelore und die anderen blieben stehen, wie auf einer Insel standen sie und wussten nicht, wie sie diesen Abschied bewerkstelligen sollten. Wie verabschiedet man sich, wenn man nicht weiß, wann und wo man sich wiedersehen wird – und ob überhaupt? Was kann man sagen, wenn die Angst einem den Hals zuschnürt und allen Worten, die vielleicht herausbrechen wollen, den Weg versperrt?
    Doch dann ging alles sehr schnell. Die schrille, durchdringende Trillerpfeife des Schaffners war zu hören, die Lokomotive stieß zischend graue Dampfwolken aus. »Es wird Zeit«, sagte Miras Vater und Rachels Mutter ließ einen Seufzer hören.
    Die Mutter nahm den Rucksack vom Rücken und drückte ihn Hannelore, die noch immer mit gesenktem Kopf dastand, in die Hand. Die Füße auf dem grauen Boden bewegten sich, erst seltsam unschlüssig, dann schneller. Hannelore hob den Blick und sah, wie Rachel hinter Estherke, Bella und Rosa ihren Koffer und den Rucksack in ein Abteil dritter Klasse schob, sich umdrehte und erst ihre Mutter umarmte und küsste, dann ihre kleine Schwester. Die Kleine wachte auf, ihr Daumen rutschte aus dem Mund, sie fing an zu weinen. Rachel zwickte sie in die Wange und versuchte, sie mit lustigen Grimassen zum Lachen zu bringen, doch die Kleine riss den Mund auf und schrie noch lauter. Das war das Bild, das Hannelore lange nicht vergessen würde: der kleine, aufgerissene Mund mit dem karminroten Gaumen und den zwei weißen Zähnchen im Oberkiefer. Das Bild hieß Abschied.
    Sie hörte, wie ihre Mutter mit erstickter Stimme sagte: »Mira, ich bitte dich, pass auf meine Kleine auf«, und wie Mira es ihr versprach. »Ja, Frau Salomon, das werde ich. Sie können sich auf mich verlassen.«
    Dann spürte Hannelore, wie ihre
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