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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna
Autoren: Mirjam Pressler
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mal fünf. Chajmke wollte vermutlich die Abkürzung über den Bahndamm nehmen, haben sie gesagt, die Leute von der jüdischen Gemeinde, die gekommen sind, um mir die Nachricht zu überbringen. Er ist über den Bahndamm gegangen und gestolpert, so wird es gewesen sein, ein Unglück, Frau Salomon, ein großes Unglück, nischt ojf uns gesogt*. So haben sie geredet, kein Wort, dass er sich umgebracht hat, aber ich weiß, was sie gedacht haben, sie habens bloß nicht sagen wollen. Vielleicht wegen der Kinder, um sie zu schonen.
    Helene ist ganz weiß geworden und hat danach nur noch das Nötigste mit mir geredet. Und als er unter der Erde war, kein Wort mehr von Chajmke. Ich glaub, sie hat mir die Schuld gegeben. Dabei konnt ich doch nichts dafür, dass das Geschäft immer schlechter gegangen ist, Weltwirtschaftskrise haben sie es genannt, und Chajmke hat immer mehr Schulden machen müssen. Na ja, drei Jahre später, als dieser Gott-möge-ihn-auslöschen an die Macht gekommen ist, wär sowieso alles den Bach runtergegangen, da hat doch keiner mehr bei Juden gekauft, auch keine Unterwäsche, keine Mieder, keine Strümpfe, kein einziges Stück Stoff.
    Damals, in der Krise, ist Chajmke immer stiller geworden, er hat nicht mehr gelacht und sogar aufgehört zu rauchen. Warum hat Helene das nicht verstanden, was doch jeder verstanden hat? Nur meine Kusine Hetty nicht. Du hättest ihm beistehen müssen, hat sie gesagt. Was heißt da beistehen? Ich hab gespart, ich hab wieder angefangen zu nähen, ich hab die einfachen Mahlzeiten gekocht, die ich aus meiner Kindheit in Polen kannte, ich weiß doch, wie arme Frauen ihre Kinder satt kriegen, Suppen, Eintöpfe, Tscholent, Hirse, gekochte Kartoffeln mit gehackten Zwiebeln, aber das hat nichts geholfen, die Schulden sind gewachsen. Hätt ich denn selber Geld drucken sollen? Ich hab mir nichts vorzuwerfen.
    Trotzdem, die Leute haben sich nach Chajmkes Tod die Mäuler über mich zerrissen und mich schief angeguckt, nicht nur Hetty. Hetty ist immer neidisch gewesen, weil ich so einen ansehnlichen Mann abgekriegt hab und sie nur diesen schäbigen Flickschuster, der sie dann auch noch sitzengelassen hat. Jetzt braucht sie nicht mehr neidisch zu sein, Chajmke ist tot und ich bin noch toter, auch wenn mans mir nicht ansieht. In schmattes* angefangen, in Lumpen geendet, dazwischen ein paar gute Jahre und Träume, viele Träume, die dahingeschmolzen sind wie Butter in der Sonne, und nichts ist geblieben, gar nichts. Nur zwei arme Kinder. Nackte Vögelchen, zu früh aus dem Nest gefallen.
    Als wir geheiratet haben, war Chajmke ein schöner Mann, nicht groß, aber kräftig, mit dunklen, lockigen Haaren und großen Augen. Dazu die weiße Haut. Er hat ausgesehen wie ein Prinz. Hannelore hat seine Augen geerbt, aber bei Chajmke haben sie gefunkelt wie glühende Kohlen und bei Hannelore sind sie stumpf wie verbranntes Holz. Schade eigentlich für ein Mädchen.
    Dänemark. Keine Ahnung, wie es dort aussieht, ich hab ja nicht viel gesehen von der Welt. Ich kenn nur unser schtetl* in Polen, wo ich aufgewachsen bin. Da war alles eng, o Gott, wie eng und schmutzig es dort war. Im Frühjahr, wenn der Schnee geschmolzen ist, sind die Straßen im Schlamm versunken, und im Winter wars so kalt, dass die Läuse erfroren sind. Aber immerhin hat man dort unter Juden gelebt, alle Nachbarn waren Juden und alle Nachbarn waren genauso arm wie wir. Fast alle. Wär ich doch dort geblieben! Aber ich hab Rosinen im Kopf gehabt, ich hab nicht so leben wollen wie meine Mutter, deshalb bin ich meiner Kusine Hetty gefolgt, die in Leipzig eine Arbeit als Näherin hatte und nur zu den hohen Feiertagen heimgekommen ist, ins schtetl. Es hat mir aber nichts genützt, das Weglaufen, jeder hat seinen Platz in der Welt, so ist es nun mal, und es ist besser, man siehts ein und fügt sich rechtzeitig. Wenn man sich wehrt, kriegt man vom Schicksal einen Patsch an den Kopf und ist selber schuld, wenns wehtut.
    Im Jahr nach unserer Hochzeit, noch vor Helenes Geburt, war ich mit Chajmke in Wien, aber sonst hab ich wirklich nicht viel gesehen. Chajmke hat mir von Russland erzählt, von Kiew und Minsk und Odessa und wie schön es dort gewesen ist und wie gut es ihm ging. Bis die Gojim* nach dem großen Krieg wieder angefangen haben, jüdische Geschäfte zu plündern und Juden zu erschlagen. Da ist er aus Russland geflohen und in Leipzig hängengeblieben.
    Was Chajmke jetzt wohl zu Dänemark sagen würde? Er hats auch nicht erlebt, dass
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