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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna
Autoren: Mirjam Pressler
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seine Älteste nach Palästina gegangen ist, nach Erez Jisroel. Das kenn ich nur aus der Bibel. Dort scheint fast immer die Sonne, sagt man, und oft soll es so heiß sein, dass einem der Verstand austrocknet und das Blut in den Adern gerinnt. Ich versteh nicht, dass überhaupt jemand dort hinwill. Vor allem Hannelore mit ihrer empfindlichen Haut. Da ist Dänemark vielleicht besser.
    Aber ich bin nur eine arme, schwache Witwe, ich kann sie sowieso nicht halten, so wie ich Helene nicht halten konnte. Diese Zionisten verdrehen den Kindern den Kopf. Reden ihnen ein, wie gut alles wird, wenn sie dahin zurückgehen, wo unsere Vorväter hergekommen sind. Ins Gelobte Land. In die neue alte Heimat. Als ob ein Jude je eine Heimat gehabt hätte.
    Wenn ich an Gott glauben würde, würde ich jetzt beten, er soll meine armen Kinder beschützen. Ich selbst kann es nicht.

Zweites Kapitel
    E in paar Tage später ging Hannelore, begleitet von ihrer Mutter, zum Bahnhof. Es war kühl und regnerisch geworden, die Hitzewelle war vorüber. Die Mutter trug Hannelores Rucksack, den sie am Vorabend noch gepackt hatte. »Nein, lass mich ihn tragen, du musst ihn noch lang genug schleppen«, hatte sie gesagt und dabei ein Gesicht gemacht, dass Hannelore nicht zu widersprechen gewagt hatte. Bedrückt lief sie neben ihrer Mutter her. In den Pfützen auf dem Bürgersteig spiegelten sich die hell ausgefransten Wolkenränder wie zerfließende Spitzensäume und in der Gosse pickten Spatzen im Schlamm.
    Ein Schauer lief Hannelore über den Rücken, obwohl sie über ihrer guten blauen Bluse die Jacke trug, die ihre Mutter ihr aus einem alten Mantel genäht hatte, eine braune, kratzige Jacke, die sie nicht mochte. Wie hässlich sie wirklich war, fiel ihr erst auf, als Mira ihnen auf dem Bahnsteig entgegenlief. Miras Sommerjacke, beige mit grünen Paspeln, passte hervorragend zu ihrem ebenfalls beigefarbenen Glockenrock. Wie immer sah sie auffallend hübsch und adrett aus, wenn auch eine Spur blasser als sonst. Hannelore zog die Schultern hoch und machte sich noch kleiner.
    »Guten Morgen, Frau Salomon«, sagte Mira höflich und deutete einen Knicks an. »Wir stehen dort drüben. Kommen Sie doch mit, wir warten noch auf die anderen Mädchen, der Zug aus Dresden muss gleich kommen.«
    Hannelores Mutter nickte verlegen und folgte Mira hinüber zu ihren Eltern, die mit Rachel und deren Mutter etwas abseits standen, am Rand des Bahnsteigs, ein Herr und eine Dame wie aus einem Journal. Miras Mutter, eine dunkelhaarige Schönheit, trug ein hellgraues Kostüm aus roher Seide und eine tomatenrote Bluse, dazu eine passende elegante Kappe, der Vater einen grauen Anzug mit roter Krawatte, abgestimmt auf die Blusenfarbe seiner Frau, und einen grauen Hut auf den schwarzen Locken, einen Hut, den er jetzt zur Begrüßung kurz lüpfte und gleich wieder aufsetzte. Auch Rachels Mutter, eine schmale, hochgewachsene Frau mit ein paar grauen Strähnen, die in ihren rotblonden Haaren aber kaum auffielen, war gut gekleidet. Sie trug Rachels kleine Schwester auf dem Arm. Die Kleine, die vielleicht ein halbes Jahr alt war, schlief mit dem Kopf am Hals ihrer Mutter. Sie hatte den Daumen in den Mund geschoben und nuckelte manchmal daran, ohne jedoch die Augen zu öffnen.
    Hannelore fiel auf, wie schäbig und armselig ihre Mutter gegen diese Leute aussah. Sie schämte sich und schämte sich für diese Scham, denn sie wusste ja, wie ungerecht ein solcher Vergleich war. Ihre Mutter hatte sich ihre Rolle nicht ausgesucht. Es gab Reiche und Arme – und kein Armer war je freiwillig arm gewesen. Wenn das Wörtchen »wenn« nicht wär, hätte Janka, ihre Freundin, jetzt gesagt, und ihre Mutter würde sagen: Böse Gedanken fallen auf einen selbst zurück und machen das Herz eines Menschen verschrumpelt und bitter wie einen alten Gallapfel.
    Natürlich bemerkte Hannelore auf den zweiten Blick auch, dass die Eleganz von Miras Eltern nicht makellos war. Auch ihrer Mutter mit dem erfahrenen Blick einer Näherin musste auffallen, dass die rohseidenen Kostümärmel abgestoßen waren, bestimmt sah sie auch, dass ein Riss neben der Anzugtasche kunstgestopft war und dass die perfekt auf Falten gebügelten Hosenbeine da, wo sie auf die Schuhspitzen stießen, ein bisschen ausgefranst waren. Und dass Miras Glockenrock mithilfe eines angesetzten Streifens aus einem billigeren Stoff verlängert worden war. Die glänzende Oberfläche von Miras Familie hatte stumpfe Flecken bekommen, die Pelzhandlung des
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