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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna
Autoren: Mirjam Pressler
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Mutter ihr mit der Hand durch die Haare fuhr, und wagte nicht, ihr ins Gesicht zu schauen. Sie hatte das Gefühl, als fange der Boden unter ihren Füßen an zu schwanken, vor ihren Augen drehte sich alles. Doch da legte Mira auch schon den Arm um ihre Schulter und schob sie zur offenen Zugtür, die Stufen hinauf in das Abteil, in dem Rachel gerade ein Fenster herunterzog und sich hinausbeugte. Bella, Rosa und Estherke hatten die Plätze auf der anderen Seite des Gangs eingenommen.
    Der Schaffner rief: »Einsteigen! Türen schließen!«, und blies auf seiner Trillerpfeife. Wieder war das Zischen der Dampflokomotive zu hören, dann setzte sich der Zug langsam in Bewegung.
    Alle drei standen sie am offenen Fenster und beugten sich hinaus, auch Hannelore, doch erst als sie sich mit dem Handrücken über die Augen gewischt hatte, konnte sie ihre Mutter unter den anderen Leuten ausmachen. Sie sah noch blasser und kleiner aus als sonst. Sehr verloren und sehr allein stand sie da, reglos wie eine der Statuen im Nordportal der Thomaskirche. Erst als Hannelore ihr aus dem offenen Fenster zuwinkte, hob sie zögernd die rechte Hand und bewegte sie ein paar Mal hin und her, ein zaghaftes, ungläubiges Winken, als könne sie es nicht fassen, dass ihre jüngste Tochter wirklich wegfuhr, so wie Helene vor drei Jahren weggefahren war. Sie winkte, blieb aber stehen, nicht wie Miras Mutter, die auf ihren Stöckelschuhen neben dem langsam rollenden Zug herlief, und nicht wie Rachels Mutter, die, mit einer Hand das noch immer oder schon wieder schreiende Baby fest an sich drückend, mit der anderen heftig winkend, ebenfalls ein paar Schritte vorwärts machte, um einen letzten Blick auf ihre große Tochter zu erhaschen.
    Hannelore sah, wie ihre Mutter kleiner und kleiner wurde, bis sie in den hellen und dunklen Flecken auf dem Bahnsteig verschwamm. Auch die beiden anderen Mütter waren jetzt nicht mehr zu erkennen, und als der Zug an Geschwindigkeit zunahm, verschwand auch der Bahnhof von Leipzig und war schließlich nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne.
    Mira schloss das Fenster. Sie drückte Hannelore, die sich jetzt so verloren fühlte, wie ihre Mutter ausgesehen hatte, auf einen Fensterplatz, dann half sie Rachel, die beiden Koffer und die drei Rucksäcke in den Gepäcknetzen zu verstauen, bevor sie sich neben Hannelore setzte. Rachel nahm den Fensterplatz gegenüber. »Wir fahren nach Dänemark«, sagte sie. »Ich war noch nie so weit weg von zu Hause.« Sie hob ihre langen Arme über den Kopf und streckte sich. In ihrer Stimme lag eine Erregung, die Hannelore nicht verstand.
    Draußen flogen Felder vorbei, Büsche, Bäume, ab und zu ein paar Häuser, und als auf einer Wiese hinter dem Bahndamm plötzlich eine Schafherde auftauchte, in deren Mitte sich ein Hirte in einem langen Umhang und mit einem breiten Hut auf dem Kopf auf einen Stab stützte, klatschte Rachel in die Hände und rief: »Schaut nur! Wie aus einem Bilderbuch!« Ihre Augen in dem schmalen, vor Aufregung geröteten Gesicht glänzten.
    »Du scheinst dich ja wirklich zu freuen, dass wir nach Dänemark fahren«, sagte Mira mit einem deutlichen Vorwurf in der Stimme. »Macht es dir denn gar nichts aus, dass deine Familie zurückbleibt?«
    »Doch«, sagte Rachel und hörte sich auf einmal ziemlich kleinlaut an. »Doch, schon. Ich weiß ja, dass ich viel trauriger sein müsste. Aber seit mein Vater nur noch jüdische Patienten behandeln darf und seit mein Bruder nach Prag gefahren ist, um dort zu studieren, ist bei uns zu Hause alles ein bisschen schwieriger geworden, und als dann noch meine kleine Schwester geboren wurde …« Sie beendete den Satz nicht. Das brauchte sie auch nicht, jeder wusste, wie peinlich es ihr gewesen war, dass ihre Mutter in einem Alter, in dem manche Frauen bereits Großmütter werden, noch einmal ein Kind bekommen hatte.
    Hannelore rutschte tiefer in die Ecke und bedeckte ihr Ge- sicht mit der Jacke, die sie an den Haken neben ihrem Kopf gehängt hatte. Sie sah ihre Mutter vor sich, wie sie ihr morgens den Malzkaffee hingestellt und die Brote geschmiert hatte, Margarine mit Leberwurst, Brote, die jetzt, in Pergamentpapier gewickelt, in der linken Vordertasche ihres Rucksacks steckten. Ich habe ihr gar nicht richtig Auf Wiedersehen gesagt, dachte sie, es ging alles viel zu schnell. Warum habe ich sie nicht umarmt, wie Mira und Rachel ihre Mütter umarmt haben, warum habe ich sie nicht geküsst, wie Mira und Rachel ihre Mütter geküsst haben?
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