Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna
Autoren: Mirjam Pressler
Vom Netzwerk:
einen Teller und stellte ihn auf den Tisch. »Hier, Kind, lass es dir schmecken«, sagte sie. »Ich habe schon gegessen.«
    Hannelore nahm einen Löffel aus der Schublade und die Mutter setzte sich an die Nähmaschine. Sie nähte schweigend und Hannelore aß schweigend. Jetzt erst, nach den vielen Wochen in Ahrensdorf in Gesellschaft all der Jugendlichen, die sogar beim Essen laut redeten, laut lachten und diskutierten, fiel ihr auf, wie still es bei ihr zu Hause war. Ihre Mutter sprach nicht viel, sie war sparsam selbst mit ihren Worten, als hätte sie Angst, einen kleinen Vorrat unnötig zu vergeuden.
    Hannelore spülte ihren Teller und den Löffel unter dem Wasserhahn ab. Ihr Gesicht und ihre Arme fühlten sich unangenehm heiß an, die Haut spannte und brannte. »Ich gehe ins Bett«, sagte sie.
    »Ja, geh nur, Kind, und schlaf gut«, sagte die Mutter, über die Musselinwolken gebeugt.
    Hannelore zog sich im Schlafzimmer aus, schmierte sich noch Creme aus der Nachttischschublade auf Gesicht und Arme und die ebenfalls geröteten Fußrücken, dann knipste sie das Licht aus und schlüpfte in das frisch gewaschene Nachthemd, das ihre Mutter für sie bereitgelegt hatte, bevor sie in das linke der beiden Ehebetten schlüpfte, in denen sie bis vor drei Jahren, bis Helene mit einigen aus ihrer Jugendgruppe nach Palästina ausgewandert war, zu dritt geschlafen hatten. Es war fast dunkel, nur durch die Tür fiel ein scharfkantiger Streifen Licht aus der Küche und verlor sich in der Dunkelheit.
    Dänemark, dachte sie und versuchte sich zu erinnern, was sie in der Schule über das Land gelernt hatte. Aber außer Meer und Inseln und Kopenhagen fiel ihr nichts ein. Und natürlich der Belt, den sie aus dem Deutschlandlied kannte: Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt. Sie dachte auch daran, dass Hans Christian Andersen Däne gewesen war und in Dänemark all diese wunderbaren Märchen geschrieben hatte, die sie ganz besonders liebte. Und dann dachte sie: Ich werde das Meer sehen, ich habe noch nie das Meer gesehen, ich kenne es nur aus Büchern. Weit draußen im Meer ist das Wasser so blau wie die schönste Kornblume und so durchsichtig wie das reinste Glas, aber es ist dort sehr tief, tiefer als das längste Ankertau. Sie schloss die Augen und sah die Postkarte vor sich, die Helene damals, auf der Fahrt nach Palästina, von unterwegs geschickt hatte und die nun an der Wand neben der Nähmaschine hing: im Vordergrund Palmen, dann das blaue Meer, wirklich so blau wie die schönste Kornblume, und am Horizont die aufgehende Sonne, die den Himmel rot färbte. Nun ja, Palmen gab es in Dänemark bestimmt nicht, Dänemark lag noch weiter im Norden als Leipzig.
    Durch die offene Tür konnte Hannelore das anhaltende Rattern der Nähmaschine hören, das immer kurz unterbrochen wurde, wenn die Mutter den Stoff in eine andere Richtung schob. Das Geräusch war ihr so vertraut wie das Schlagen der nahen Kirchturmuhr und wie die Atemzüge ihrer Mutter, wenn sie im Bett neben ihr lag. Und obwohl das eintönige Rattern sonst so einschläfernd auf sie wirkte und obwohl sie wirklich müde war, konnte sie an diesem Abend keinen Schlaf finden. Vielleicht lag das an ihrer Haut, die jetzt, nachdem die Salbe eingezogen war, wieder anfing zu brennen. Jedenfalls war sie noch wach, als sie hörte, wie ihre Mutter ein letztes Mal zur Toilette ging, bevor sie die Küchentür abschloss, das Licht ausmachte, sich auszog und im Dunkeln ins Schlafzimmer kam. Das Bettgestell knarrte und die Zudecke raschelte, als sie sich in das rechte Bett legte. Die Kirchturmuhr schlug elf.
    »Schlaf gut, Mama«, sagte Hannelore.
    Ihre Mutter schwieg lange, doch dann brach es aus ihr heraus: »Ich hätte euch nie zum Bund * gehen lassen dürfen, Helene und dich. Jetzt nehmen mir die Zionisten * auch noch die zweite Tochter weg.«
    Hannelore hörte die Verzweiflung in der Stimme ihrer Mutter. »Soll ich hierbleiben?«, fragte sie. »Sie können mich nicht zwingen. Sag, soll ich bei dir bleiben?«
    Eine Weile war es still, dann sagte die Mutter mit einer Stimme, der man die Tränen anhörte: »Nein, du gehst. Helene hat auch geschrieben, ich soll schauen, dass ich dich aus Deutschland rausbekomme. Wer weiß, was uns noch alles bevorsteht mit diesem Hitler und seinen Kohorten. Ich bin nur eine arme Frau, ich kann dich nicht beschützen. Du gehst, hast du verstanden? Und jetzt gute Nacht, Kind, es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher