Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna
Autoren: Mirjam Pressler
Vom Netzwerk:
Püppchen« sagten, und gelegentlich brachte es Hannelore auch Vorteile, so klein und dünn zu sein, zum Beispiel wurde ihr beim Essen oft eine zusätzliche Portion zugeschoben, oder jemand beeilte sich, für sie einen Sack zu schleppen oder den großen Wäschetopf vom Herd zu heben, weil das »einfach zu schwer für die Kleine« war. Doch meistens hasste Hannelore den Namen Püppchen, er machte sie vor aller Augen so klein und mickrig, wie sie sich selbst oft fühlte. Dann war sie sich bewusst, wie dünn sie war, dass sie die Arme und Beine eines Kindes hatte und auch so flachbrüstig war wie ein Kind. Ganz anders als Mira, bei der sich die Bluse über der Brust spannte, wenn sie sich reckte, sodass man manchmal fürchten konnte, die Knöpfe würden abspringen.
    Erneut hörte sie Miras Stimme. »Püppchen, schau doch, wer da kommt!«
    Widerstrebend hob Hannelore den Kopf und ihr Blick folgte Miras ausgestrecktem Arm. Nun sah sie es auch, es war Joschka, der aus der Richtung der Hachschara 1) herübergeradelt kam. Inzwischen hatten die anderen Mädchen ihn auch bemerkt, den schönen Joschka. Der schönste Junge von Ahrensdorf, vielleicht sogar von ganz Deutschland, wie sie sich oft gegenseitig versicherten, kichernd, mit geröteten Wangen und funkelnden Augen.
    1) Mit einem Sternchen gekennzeichnete Wörter sind im Glossar am Ende des Buches kurz erklärt.
    Eine nach der anderen richteten sie sich nun auf und schauten ihm erwartungsvoll entgegen. Er war verschwitzt und atmete schwer, als er vor dem Kartoffelacker hielt, absprang und das Rad auf den Boden legte. Die Mädchen rannten zu ihm hin, umringten ihn neugierig. Er zog einen Zettel aus der Tasche und las die Namen von neun Mädchen vor, zu denen auch Hannelore und Mira gehörten, außerdem Rachel, die ebenfalls aus Leipzig stammte, Rosa aus Bautzen, Bella und Estherke aus Dresden und drei Mädchen aus Berlin, von denen Hannelore nur zwei dem Namen nach kannte, Eva und Elisabeth. Die dritte sah älter aus als die anderen, schon fast wie eine Frau, trotz des mädchenhaften Zopfs, den sie sich zum Arbeiten hochsteckte.
    »Was ist mit uns?«, fragte Mira.
    »Ihr geht auf der Stelle zurück zum Schlösschen, ich erwarte euch in meinem Büro«, sagte Joschka, und als die Mädchen wissen wollten, was los sei, fügte er schroff hinzu: »Keine Diskussion, ihr seid in spätestens einer halben Stunde bei mir.«
    Er hob sein Fahrrad hoch, um zurückzufahren, da sagte Mira: »Dann nimm wenigstens Püppchen auf dem Rad mit. Schau doch, wie rot die Kleine ist. Macht jedem Krebs Konkurrenz.«
    Joschka wartete, bis Hannelore ihre Sandalen geholt hatte und auf den Gepäckträger gestiegen war. Das Fahrrad schwankte auf den holprigen Feldwegen hin und her, und Hannelore musste die Arme um Joschkas Bauch legen, um nicht hinunterzufallen. Es war ein seltsames Gefühl, das Gesicht so nah an Joschkas Rücken zu haben, dass sie durch das Hemd hindurch seine Wärme spürte. Er roch nach einer Mischung aus Seife und Schweiß und ein bisschen nach Schokolade. Als sie das Schlösschen erreicht hatten, sprang Hannelore ab und bedankte sich bei Joschka, bevor sie zur Pumpe ging, um sich zu waschen. Danach setzte sie sich in den Schatten unter einem Baum und wartete auf Mira und die anderen.
    Schließlich standen sie in Joschkas Büro, einem kleinen, karg eingerichteten Raum, dessen einziger Schmuck eine große Landkarte war, die mit Reißzwecken an der Wand hinter Joschkas Schreibtisch befestigt war. Es war eine alte, kolorierte Karte von Erez Israel * , von Palästina, in die sie während des Unterrichts mit sorgfältig gemalten hebräischen Buchstaben die Namen der neuen jüdischen Städte und Siedlungen eingetragen hatten.
    Joschka hob den Kopf, als auch die drei Berlinerinnen den Raum betreten hatten. Der Reihe nach musterte er die Mädchen, dann sagte er: »Ihr fahrt noch heute nach Hause zurück und wartet dort, bis ihr Nachricht bekommt. Wir haben Plätze für euch in Dänemark.«
    »Wieso Dänemark?«, rief Mira und funkelte ihren Bruder wütend an. »Was heißt da Dänemark? Wir wollen nach Palästina, nicht nach Dänemark.«
    »Wir haben Plätze für euch in Dänemark und ihr solltet froh und glücklich sein«, erklärte Joschka mit unbewegtem Gesicht. »Reiß dich zusammen, Mira, ich will keine Widerworte hören.«
    »Keine Widerworte«, höhnte Mira. »Du glaubst wohl, du könntest über mich bestimmen, nur weil du Madrich * geworden bist. Bilde dir ja nichts ein!«
    Sie ballte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher