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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna
Autoren: Mirjam Pressler
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die Hände zu Fäusten und hob sie vor die Brust, als wolle sie gleich auf ihren Bruder losgehen. Auch die anderen Mädchen machten finstere Gesichter und protestierten laut, sogar Estherke, die mausgraue, ziemlich kleine Dresdenerin, die sonst kaum den Mund aufmachte. Hannelore blieb still, obwohl auch sie nicht an Dänemark gedacht hatte, nur an Palästina, wohin ihre große Schwester Helene bereits vor drei Jahren gezogen war. Was sollte sie in Dänemark?
    Joschka sah auf einmal gar nicht mehr so schön aus. Der Ärger verfinsterte sein Gesicht, sein Mund verzerrte sich und über seiner Nase bildete sich eine hässliche, senkrechte Falte. Er fauchte böse: »Ihr solltet froh sein, dass ihr aus diesem verdammten Land rauskommt! Ihr seid die Glücklichen, die Auserwählten.«
    »Ich will aber nach Palästina«, sagte Mira wütend. Die anderen Mädchen nickten und strafften die Schultern, nur die Berlinerin mit dem Zopf nickte, als wäre ihr alles klar.
    »Du tust, was man dir sagt«, fuhr Joschka seine Schwester an, noch immer mit diesem neuen, finsteren Gesicht. »Du fährst nach Dänemark, und wenn ich dich höchstpersönlich zum Bahnhof prügeln muss.«
    Mira presste die Lippen zusammen und schwieg, aber man sah ihr an, dass sie nur widerwillig gehorchte.
    »Packt eure Rucksäcke und beeilt euch, dann erreicht ihr noch den Nachmittagszug von Trebbin nach Berlin und auch die Anschlüsse nach Leipzig, Dresden und Bautzen. Ich habe dem Küchendienst Bescheid gesagt, dass man euch was zu essen mitgibt. Also ab mit euch.« Und etwas leiser fügte er hinzu: »Ich wünsche euch viel Glück.«
    Hannelore betrachtete ihn erstaunt. Plötzlich sah er wieder schön aus. Schön und traurig.
    Als sie in Leipzig ankamen, wurde es bereits dunkel. Mira und Rachel brachten Hannelore nach Hause. »Man kann die Kleine doch nicht allein durch die Nacht laufen lassen«, hatte Mira gesagt. Sie gingen die Querstraße entlang und bogen in die Dresdener Straße ein. Bald hatten sie das Viertel mit den hohen, düsteren Mietshäusern erreicht, in dem Hannelore in einem Hinterhaus wohnte. Die Straßenlaternen brannten, aber sie standen so weit voneinander entfernt, dass ihr Licht nur blasse, verschwommene Flecken auf das Pflaster warf. Auf dem ganzen Weg hatte Hannelore gefürchtet, die beiden Mädchen würden sie bei ihrer Mutter abliefern wollen, und sie hatte fieberhaft nach einer Ausrede gesucht, um sie davon abzuhalten. Dann hätten sie die kleine, enge Wohnung gesehen, nur Küche und Schlafzimmer, Toilette auf halber Treppe. Mira, deren Vater Pelzhändler war, und Rachel, die Tochter eines Augenarztes, wohnten beide im Waldstraßenviertel, wo es Häuser mit prachtvollen Fassaden und große Wohnungen mit Stuckdecken gab.
    Doch als sie das Haus erreichten und vor dem Durchgang zum Hinterhaus stehen blieben, stellte sich heraus, dass Hannelores Befürchtung überflüssig gewesen war. »Mach’s gut, Püppchen«, sagte Mira. »Bis bald. Und vergiss nicht, dich einzucremen.« Sie fuhr Hannelore durch die Haare, dann liefen Rachel und sie so schnell davon, dass die Rucksäcke auf ihren Rücken hüpften.
    Hannelore stieg in dem dunklen, je Stockwerk nur von einer einzigen Glühbirne erleuchteten Treppenhaus die Stufen hinauf zum vierten Stock. Es roch wie immer nach Kohl und nasser Wäsche, nach Feuchtigkeit, Staub und Schimmel.
    Ihre Mutter wusste schon Bescheid, die Leute von Habonim * waren bei ihr gewesen und hatten mit ihr gesprochen. Ihre Augen waren rot, die wimpernlosen Lidränder geschwollen. Hannelore fragte sich, ob sie wieder einmal an einer Bindehautentzündung litt, weil sie zu lange gestopft, geflickt und genäht hatte, oder ob sie aus Gram geweint hatte, weil nun auch ihre zweite Tochter Deutschland verlassen würde.
    Auf einem Stuhl lag die ordentlich gefaltete Wäsche, die die Mutter für ihre Kundinnen ausgebessert hatte, ein zweiter Stapel lag auf dem Tisch, und auf der Nähmaschine, die vor dem Fenster stand, sah Hannelore Vorhänge aus zarten, geblümten Musselinwolken. Sie trat näher und berührte den Stoff, der sich noch weicher anfühlte, als er aussah. Bevor ihre Mutter sie ermahnen konnte, nichts schmutzig zu machen, zog sie die Finger zurück. »Für wen?«, fragte sie.
    Ihre Mutter stellte gerade einen Topf auf den Gasherd, nun drehte sie sich zu Hannelore um. »Für Frau Doktor Sedlitz, ich muss bis morgen fertig werden.«
    Bald roch die ganze Küche nach Kartoffelsuppe. Ihre Mutter schöpfte dampfende Suppe in
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