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Ein Blatt Liebe

Ein Blatt Liebe

Titel: Ein Blatt Liebe
Autoren: Emile Zola
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Fläschchen,
zählte die Tropfen ab und führte mit Helenes Hilfe, die dem Kinde
den Kopf hielt, einen Löffel voll zwischen die aufeinandergepreßten
Zähne. Die Lampe brannte sehr hoch und ihr weißes Licht beschien
die Unordnung des Zimmers. Die Kleider, welche Helene, wenn sie zu
Bett ging, über eine Stuhllehne legte, waren zu Boden geglitten und
sperrten den Teppich. Der Doktor hob ein Korsett auf, um nicht
darauf zu treten. Verbenenduft entstieg dem zerwühlten Bett und den
umherliegenden Wäschestücken.
    Die intime Häuslichkeit einer Frau verriet ihre Geheimnisse. Der
Doktor holte selbst die Waschschüssel herbei, feuchtete ein Stück
Leinwand und legte es dem kranken Kinde auf die Schläfe.
    »Gnädige Frau, Sie werden sich erkälten,« sagte Rosalie, von
Frost geschüttelt. »Man könnte jetzt vielleicht das Fenster schließen. Die Luft ist doch gar zu
scharf.«
    »Nein, nein!« rief Helene; »laß das Fenster offen! Nicht wahr,
Herr Doktor?«
    Schwacher Wind drang herein, die Vorhänge hebend. Der Schal war
Helene, ohne daß sie es merkte, von den Schultern geglitten, die
schneeige Weiße des Busens entblößend. Hinten ließ der gelöste Zopf
wirre Strähnen bis auf die Hüften niederhängen. Sie hatte die Ärmel
aufgestreift, um besser bereit zu sein, dachte ja an nichts anderes
als an ihr Kind. Und der Arzt vor ihr dachte in seiner
Geschäftigkeit auch nicht mehr an den offen stehenden Rock, an den
von Jeanne in Unordnung gebrachten Hemdkragen.
    »Richten Sie sie ein bißchen auf,« sagte er, – »nein, nicht so!
Reichen Sie mir die Hand!«
    Er faßte die Hand, schob sie selbst unter den Kopf des Kindes,
dem er noch einen Löffel Arznei einflößen wollte. Dann rief er sie
neben sich. Er bediente sich ihrer wie einer Assistentin, und
Helene gehorchte willig, da sie sah, daß ihr Kind ruhiger zu werden
schien.
    »Kommen Sie – legen Sie ihr den Kopf an Ihre Schultern, ich will
ihre Brust abhorchen.«
    Helene tat es. Nun neigte sich der Arzt über sie, um sein Ohr an
Jeannes Brust zu legen. Er hatte ihre bloße Schulter mit seinem
Kinn gestreift, und während er dem Schlage des kindlichen Herzens
lauschte, konnte er auch die Schläge des Mutterherzens zählen. Als
er sich aufrichtete, begegnete sein Atem dem ihren.
    »Von dieser Seite ist nichts zu befürchten,« sagte er mit Ruhe,
während Freude in ihr Herz einzog. »Legen Sie die Kleine wieder
hin, wir dürfen sie nicht länger quälen.« Ein neuer Anfall kam, aber er war weit schwächer.
Jeanne ließ ein paar abgerissene Laute hören. Zwei weitere Anfälle
folgten in kurzen Zwischenräumen. Das Kind war in einen
Schwächezustand verfallen, der dem Arzte neue Beunruhigung zu
machen schien. Er hatte es mit dem Kopfe sehr hoch gelegt. Fast
eine Stunde lang blieb er sitzen und beobachtete es; er schien zu
warten, daß der regelmäßige Gang des Atems wiederkäme. Auf der
andern Bettseite wartete Helene, ohne sich zu rühren.
    Nach und nach breitete sich großer Friede über Jeannes Gesicht.
Die Lampe erhellte es mit ihrem matten Scheine. Das Gesicht des
Kindes erhielt sein liebliches Oval wieder. Die geschlossenen Äugen
hatten breite bläuliche und durchsichtige Lider, unter denen man
den düstern Glanz des Blickes erriet. Die schmale Nase hob und
senkte sich leicht, der ein wenig große Mund war von irrem Lächeln
umspielt. So schlief sie mitten auf dem ausgebreiteten
tintenschwarzen Haar.
    »Diesmal ist es mit den Anfällen zu Ende!« sagte der Arzt
halblaut, ordnete seine Fläschchen und schickte sich zum Gehen
an.
    »Oh! Herr Doktor!« flüsterte Helene, »lassen Sie mich nicht
allein! Warten Sie noch ein paar Minuten! Wenn die Anfälle doch
noch wiederkämen! Ihnen hab ich die Rettung des Kindes zu
danken!«
    Er machte ein Zeichen, daß nichts mehr zu befürchten stehe.
Indessen blieb er, weil er sie nicht ängstigen mochte. Sie hatte
Rosalie zu Bett geschickt. Bald erschien der Tag, ein milder,
grauer Tag, über dem die Dächer bleichenden Schnee. Der Doktor
schloß das Fenster. Beide tauschten inmitten des großen Schweigens
mit leiser Stimme spärliche Worte. »Es ist
nichts Ernstliches, glauben Sie mir. Bloß braucht's in ihrem Alter
viel Sorgfalt. Wachen Sie vor allem darüber, daß ihr Leben
gleichmäßig und glücklich, von allen Erschütterungen frei
bleibt.«
    Nach einer Weile sagte Helene:
    »Sie ist so zart, so nervös … ich vermag sie nicht immer zu
regieren. Sie liebt mich mit Leidenschaft, mit einer Eifersucht,
die ihr die
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