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Ein Blatt Liebe

Ein Blatt Liebe

Titel: Ein Blatt Liebe
Autoren: Emile Zola
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Beunruhigen Sie sich
nicht! Die Krise muß ihren Verlauf nehmen!«
    Und beide hielten, über das Bett geneigt, Jeanne, deren Glieder
sich mit heftigen Stößen spannten. Der Arzt hatte den Rock
zugeknöpft, den bloßen Hals zu verdecken. Helene blieb, wie sie das
Haus verlassen hatte, in den Schal gehüllt, den sie über die
Schultern geworfen hatte. Jeanne aber riß, als sie sich der
festhaltenden Hände erwehrte, einen Zipfel des Schals fort und dem
Arzte die Knöpfe der Jacke auf. Sie merkten nichts
davon. Inzwischen ließ der Anfall nach. Die
Kleine schien in eine große Ermattung zu sinken. Wenn er auch die
Mutter über den Ausgang der Krise beruhigte, blieb der Arzt doch
mit der Kranken beschäftigt und ließ sie nicht aus den Augen.
Endlich stellte er an Helene, die in der Bettgasse stand, kurze
Fragen.
    »Wie alt ist das Kind?«
    »Elf und ein halbes Jahr, Herr Doktor.«
    Schweigen trat ein. Er schüttelte den Kopf, bückte sich, um
Jeannes geschlossenes Augenlid zu heben und die Schleimhaut zu
besehen. Dann fragte er weiter, ohne Helene anzuschauen:
    »Hat sie schon früher Krämpfe gehabt?«
    »Ja, Herr Doktor, sie sind aber mit dem sechsten Jahre
ausgeblieben. Sie ist sehr schwächlich – seit ein paar Tagen merkte
ich, daß sie nicht recht wohl war. Sie hatte Zuckungen, war nicht
bei sich.«
    »Ist Ihnen etwas von Irrsinn in Ihrer Familie bekannt?«
    »Ich weiß nicht … meine Mutter ist an Brustkrankheit
gestorben.«
    Helene zögerte beschämt, denn die mochte nicht eingestehen, daß
ihre Großmutter im Irrenhaus gestorben war.
    »Geben Sie acht!« sagte der Arzt lebhaft; »es kommt ein neuer
Anfall.«
    Jeanne hatte eben die Augen geöffnet. Sie schaute mit irrem
Blick um sich, ohne einen Laut von sich zu geben. Dann wurde dieser
Blick starr, der Körper warf sich nach hinten und die Glieder
wurden steif. Sie war puterrot. Plötzlich wurde sie leichenblaß,
und die Krämpfe begannen.
    »Lassen Sie mich los!« fuhr der Doktor fort. »Nehmen Sie auch
die andere Hand!« Er eilte zum Schränkchen,
auf das er vorhin ein Arzneikästchen gestellt hatte. Mit einem
Fläschchen kam er zurück und ließ das Kind daran riechen. Aber das
war, als wenn sie ein furchtbarer Peitschenschlag getroffen hätte.
Das Kind packte eine solche Erschütterung, daß es den Händen der
Mutter entglitt.
    »Nein, nein, keinen Äther!« schrie Helene, »Äther bringt sie
außer sich.«
    Es gelang ihren vereinten Kräften kaum, das Kind zu halten. Sie
hatte heftige Zuckungen und bäumte sich auf Fersen und Nacken
empor. Dann fiel sie zurück, schüttelte sich in einem Hinundher,
das sie an beide Kanten des Bettes warf. Ihre Fäustchen waren
geschlossen, der Daumen der Handfläche zugekehrt; zeitweise öffnete
sie diese und suchte mit ausgestreckten Fingern Gegenstände im
leeren Raum zu fassen, um sie zu zerdrücken. Sie traf auf den Schal
ihrer Mutter und klammerte sich daran fest. Aber was Helene vor
allem quälte, war, wie sie sagte, daß sie ihr Kind nicht mehr
wiedererkenne; Ihr armer Engel mit dem süßen Gesichtchen hatte
verzerrte Züge, die Augen traten aus ihren Höhlen und zeigten einen
bläulichen Schimmer.
    »Tun Sie etwas, ich bitte Sie flehentlich – ich fühle mich am
Ende meiner Kräfte, Herr Doktor.«
    Helene hatte sich eben der Tochter einer Nachbarsfrau in
Marseille erinnert, die sich von einem ähnlichen Anfall nicht
wieder erholt hatte und gestorben war. Vielleicht täuschte sie der
Arzt, um sie zu schonen? Sie glaubte alle Sekunden, den letzten
Hauch des Kindes im Gesicht zu verspüren. Dessen Atem stockte jetzt
gänzlich. Und von Schmerz, Jammer und Schrecken übermannt, begann
sie zu weinen. Ihre Tränen fielen auf die unschuldigen
bloßen Glieder des Kindes, das die Decken
wieder von sich geworfen hatte.
    Der Doktor massierte mit langen geschmeidigen Fingern sanft den
unteren Halsteil des Kindes. Die Heftigkeit des Anfalls nahm ab.
Jeanne blieb nach einigen matten Bewegungen, erschöpft liegen. Sie
war mit ausgestreckten Armen auf die Mitte des Bettes gesunken, und
der Kopf, auf das Kissen gestützt, fiel auf die Brust. Es war, als
ob man ein Christuskind sehe. Helene küßte sie lange auf die
Stirn.
    »Ist's zu Ende?« fragte sie halblaut. »Glauben Sie, daß noch
weitere Anfälle kommen?«
    Er machte eine ausweichende Gebärde.
    »Jedenfalls werden die späteren weniger heftig sein.«
    Er hatte Rosalie gebeten, ihm ein Glas und eine Karaffe zu
bringen. Das Glas füllte er halb, griff nach zwei neuen
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