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Ein Blatt Liebe

Ein Blatt Liebe

Titel: Ein Blatt Liebe
Autoren: Emile Zola
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Tränen in die Augen treibt, wenn ich ein anderes Kind
liebkose.«
    Der Arzt schüttelte den Kopf:
    »Ja, ja, zart, nervös, eifersüchtig… Kollege Bodin hat sie in
Behandlung, nicht wahr? Ich will mit ihm reden. Wir wollen eine
energische Behandlung festsetzen. Sie steht in dem Alter, wo sich
die Gesundheit des Weibes entscheidet.«
    Als sie ihn so voll Eifer und Hingabe sah, fühlte Helene sich
zur Dankbarkeit gedrängt.
    »Ach! Herr Doktor! Wie danke ich Ihnen für die viele Mühe, die
Sie gehabt haben!«
    Da sie laut gesprochen hatte, beugte sich Helene über das Bett,
aus Furcht, Jeanne geweckt zu haben. Das Kind schlief mit rosigem
Gesicht, ein schwaches Lächeln auf den Lippen. In dem beruhigten
Zimmer schwebte eine schläfrige Stille; alles ermattete in dem
schwachen, durch die Scheiben dringenden Tageslichte.
    Helene stand wieder in der Bettgasse. Der Doktor hielt sich am
anderen Bettrande. Und zwischen ihnen schlummerte, leicht atmend,
Jeanne.
    »Ihr Vater war oft krank,« begann Helene mit weicher Stimme.
»Ich – oh! ich habe mich immer wohl gefühlt.«
    Der Doktor, der sie noch nicht angesehen hatte, hob den Blick
und konnte nicht umhin zu lächeln. So gesund und stark war sie. Sie lächelte in ihrer ruhigen,
freundlichen Weise zurück. Ihre herrliche Gesundheit machte sie
glücklich. Indessen, er ließ keinen Blick von ihr. Niemals hatte er
so ebenmäßige Schönheit gesehen. Groß, prächtig, war sie eine
kastanienbraune Juno, das Haar von einem mit blonden Reflexen
vergoldeten Braun. Wenn sie langsam den Kopf wandte, gewann ihr
Profil die ernste Reinheit einer Statue. Ihre grauen Augen und
weißen Zähne erhellten ihr Antlitz. Sie hatte ein rundes, ein wenig
starkes Kinn, das ihr ein verständiges und entschlossenes Aussehen
gab. Was aber den Doktor in Erstaunen setzte, war die erhabene
Blöße dieser Mutter. Der Schal war gänzlich herabgeglitten. Der
Busen lag bloß, die Arme blieben nackt. Eine dicke Flechte
goldbrauner Färbung fiel auf die Schulter und verlor sich im Busen.
In ihrem schlecht befestigten Rock und dem unordentlichen Haar
bewahrte sie dennoch eine Majestät, erhabene Ehrbarkeit und Scham,
welche sie keusch erscheinen ließ unter dem Blick dieses Mannes, in
dessen Herzen eine große Verwirrung aufstieg.
    Sie selbst prüfte ihn einen Augenblick lang. Der Doktor Deberle
war ein Mann von fünfunddreißig Jahren, mit glatt rasiertem,
länglichem Gesicht, klugen Augen und schmalen Lippen. Als sie ihn
ansah, bemerkte sie ihrerseits, daß er den Hals entblößt hatte. Und
so blieben sie Angesicht in Angesicht stehen, zwischen sich die
entschlummerte Jeanne. Aber der eben noch unermeßliche Raum schien
sich zu verengen. Das Kind hatte allzu schwachen Atem. Da zog
Helene langsam ihren Schal wieder herauf und verhüllte sich,
während der Doktor seinen Rockkragen zuknöpfte.
    »Mama, Mama!« lallte Jeanne. Als die
Schlafende die Augen geöffnet hätte, sah sie den Arzt und wurde
unruhig.
    »Wer ist das? wer ist das?« fragte sie. Die Mutter gab ihr einen
Kuß.
    »Schlafe, mein Süßes! Du bist krank gewesen, der Mann ist unser
Freund!«
    Das Kind tat verwundert, besann sich auf nichts. Der Schlummer
übermannte Jeanne und sie schlief wieder ein, mit schwacher Stimme
und freundlicher Miene lispelnd:
    »Oh! Bin ich müde – Gute Nacht, Mütterchen! Wenn er dein Freund
ist, wird er auch mein Freund werden!«
    Der Arzt hatte sein Besteck an sich genommen. Er grüßte
schweigend und zog sich zurück. Helene lauschte dem Atem des
Kindes, dann verlor sie sich, auf dem Bettrande sitzend, in wirres
Sinnen. Die Lampe, welche sie auszulöschen vergessen, brannte in
den hellen Tag hinein.

Kapitel 2
     
    Am andern Tage meinte Helene, es sei schicklich, dem Doktor
Deberle Dank abzustatten. Die unsanfte Art, mit der sie ihn
gezwungen hatte, ihr zu folgen, und die an Jeannes Bett verbrachte
Nacht setzten sie in Verlegenheit, da ihr solcher Dienst weit über
die gewöhnliche Besuchspflicht eines Arztes hinauszugehen schien.
Indessen zögerte sie noch zwei Tage aus Gründen, die sie nicht
hätte angeben können. Eines Morgens traf sie ihn und versteckte
sich wie ein Kind. Sie war später über diese Schüchternheit sehr
verdrießlich. Ihr ruhiges und grades Gemüt lehnte sich gegen diese
in ihr Leben dringende Störung auf. Sie entschloß sich dann auch,
noch am selben Tage dem Doktor ihren Besuch abzustatten.
    Der Anfall der Kleinen war in der Nacht vom Dienstag zum
Mittwoch gewesen und jetzt war es
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