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Eigentlich bin ich eine Traumfrau

Eigentlich bin ich eine Traumfrau

Titel: Eigentlich bin ich eine Traumfrau
Autoren: Jana Seidel
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Liebe empfinde?
    Ich schlafe ein.
    Wie erwartet liege ich dafür in der Nacht wach. Eine schlaflose Nacht ist etwas Merkwürdiges. Mir gehen dann immer die schlimmsten Dinge durch den Kopf. Der ganze Müll, der sich tagsüber unbemerkt angesammelt hat. Da bekomme ich plötzlich eine panische Angst vor allen möglichen Sachen, die einem tagsüber lächerlich erscheinen würden. Obwohl mein Kopf das weiß, kommt er nicht gegen die schaurigen Gefühle an. Ich versuche, mit positiven Gedanken gegen die Furcht anzusteuern. Visualisierungsübungen sollen schließlich bei fast allem helfen. Ich male mir also aus, wie ich über die grüne Wiese eines blühenden Parks direkt in die Arme des attraktiven Schlossherrn laufe. Leider verschwimmt das Bild immer wieder. Und ich muss wieder daran denken, dass ich mir das alles ganz anders vorgestellt hatte. Bald bin ich 40, 50, 60 und dann tot. Und dann? Waren das schöne, unbeschwerte Zeiten, als man sich als Kind noch unsterblich wähnte. Wenn man erst mal anfängt über das Ende nachzugrübeln, hört man nicht mehr auf.
Und keine Lösung ist trostreich. Ich spiele sie, wie schon so oft, in Gedanken durch: ewiges Leben irgendwo im All – eine so erschlagende Vorstellung, dass man sie nicht aushält.
    Abtauchen ins Nichts – eine so erschlagende Vorstellung, dass man sie nicht aushält.
    Wiedergeburt? Aber dann würde man sich ja nicht an sein Vorleben erinnern. Es sei denn, man wird zufällig Esoterikerin und macht eine Rebirthing-Therapie wie meine Mutter. Und wenn man sich nicht erinnert, es also keinerlei Brücke zwischen den Leben gibt, ist das ja genauso wie ins Nichts abzutauchen, also auch nicht trostreich. Aber an was soll man glauben? Wer irrt sich, und wer hat Recht? An diesem Abend geschieht das Schreckliche. Mir fällt ein unschlagbares Argument ein, das eindeutig fürs Nichts spricht: Was ist denn bitte schön mit den Tieren? Die haben doch auch ein Bewusstsein. Warum sollen wir eine jenseitige Vorzugsbehandlung kriegen, nur weil wir einen grammatikalisch korrekten Satz formen, und unser Dilemma deswegen immerhin artikulieren können? Das erscheint mir unlogisch. Und ein Hundehimmel, da lass ich noch mit mir reden, aber kann man sich ein Regenwurm-Nirwana vorstellen? Nein, natürlich nicht! Das bedeutet, dass es kein Lebewesen in eine andere Welt schaffen wird, wir bald alle weg vom Fenster sind und einige Menschen, an denen ich hänge, noch vor mir.
    Da muss ich einfach losheulen, um meine Liebsten, die Regenwürmer und mich. Im größten Elend finde ich endlich eine Lösung für das Wahrheitsproblem: Statt meiner Mutter die Wahrheit zu sagen, dass ich nie wieder mit ihr in
den Urlaub fahren will, werde ich fürs gute Gewissen endlich mal eine andere Wahrheit über die Lippen bringen: dass ich sie trotz allem liebe. Wenn sie mich nicht vorher wieder zur Weißglut bringt. Ha! Alles in allem bin ich ein guter Mensch. Der vierunddreißigste Geburtstag kann kommen. Aber bitte nicht so schnell.

    A uf dem Weg in die Redaktion geschieht das Wunder. Eigentlich will ich nur einen ganz kurzen Blick in das Schaufenster der gegenüberliegenden Buchhandlung werfen, da sehe ich ein Plakat, auf dem eine Lesung mit Rafael Bleibtreu angekündigt wird. Ich habe noch nie etwas von dem Schriftsteller gehört, aber ich erkenne ihn sofort: die langen, dunklen Wimpern, die sensible Mundpartie. Ich bin mir ganz sicher, dass seine Augen grün sind. Es ist allerdings ein Schwarz-Weiß-Foto, deshalb kann ich das nicht so genau feststellen. Er ist jedenfalls der Mann, für den ich alle anderen vergrault habe. Der Mann, der mich blind verstehen wird und bei dem ich automatisch zu der Frau werde, die ich immer sein wollte. Welche, das weiß ich noch nicht ganz so sicher: entweder die geheimnisvolle Schöne à la Lauren Bacall oder der bezaubernde Wirbelwind à la Holly Golightly aus »Frühstück bei Tiffany«. Oh, vielleicht lieber Letzteres. Holly bringt – zumindest in der nicht so werktreuen Verfilmung – ja auch den zurückhaltenden Schriftsteller dazu, am Leben teilzuhaben. Und dieses Gefühl des richtungslosen Heimwehs, dieser Sehnsucht nach irgendetwas, das man nicht näher fassen kann, wird
sofort verfliegen. Und in drei Wochen werde ich ihm begegnen, denn da – so steht es auf dem Plakat – wird er in dieser Buchhandlung lesen.
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