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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Autoren: Hannah Arendt
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»gerichtsfrei« bleibt, weil die Existenz des Staates selbst auf dem Spiel steht und kein Staat dem anderen entweder die Existenz abstreiten oder ihm vorschreiben kann, wie er seine Existenz bewahren soll, so tritt – wie wir gerade aus der Geschichte der Judenpolitik im Dritten Reich lernen können – in dem prinzipiell verbrecherischen Staatsverband umgekehrt die nicht-verbrecherische Handlung (also z. B. der Himmler-Befehl im Spätsommer 1944, die Judendeportationen zu stoppen) als ein von der Realität, nämlich der drohenden Niederlage, erzwungenes Zugeständnis an die Notwendigkeit auf. Hier erhebt sich die Frage, wie es um die Souveränität eines solchen Gebildes steht. Hat es nicht die völkerrechtlich vorausgesetzte Parität ( par in parem non habet jurisdictionem ) aus eigener Machtvollkommenheit gebrochen? Ist das »par in parem« wirklich nur formal gemeint oder liegt ihm nicht vielmehr auch eine substantielle Gleichheit oder Gleichartigkeit zugrunde? Oder anders gewendet: Kann für eine staatliche Ordnung, in der das Verbrechen legal und die Regel ist, der gleiche Grundsatz gelten wie für einen Staatsapparat, in dem das Verbrechen und die Gewalt als Ausnahmen und Grenzfälle erscheinen?
    Wie ungenügend die juristischen Begriffe in Wahrheit auf den wirklich vorliegenden verbrecherischen Tatbestand, der in all diesen Prozessen verhandelt wird, vorbereitet sind, kommt vielleicht noch eklatanter in dem Begriff des Handelns auf höheren Befehl zum Ausdruck. Das Jerusalemer Gericht begegnete dem von der Verteidigung vorgebrachten Argument mit ausführlichen Zitaten aus den Straf- und Militärgesetzbüchern zivilisierter Länder, vor allem auch Deutschlands, das die einschlägigen Paragraphen unter Hitler keineswegs außer Kraft gesetzt hatte; sie alle stimmen darin überein, daß offensichtlich verbrecherische Befehle nicht befolgt werden dürfen. Der Gerichtshof berief sich außerdem auf ein vor einigen Jahren in Israel stattgefundenes Verfahren, in dem Soldaten vor Gericht gestellt wurden, die kurz vor Beginn der Sinaikampagne die zivile Bevölkerung eines an der Grenze gelegenen arabischen Dorfes niedergemetzelt hatten, weil sie während einer militärisch verhängten Ausgehsperre, von der sie offenbar nichts wußten, außerhalb ihrer Wohnungen angetroffen worden waren. Leider hinkt bei näherem Zusehen der Vergleich, auf den das Gericht sich in seiner Gegenargumentation stützte, gleichsam auf beiden Beinen. Vorerst ist auch hier zu berücksichtigen, daß das Verhältnis von Ausnahme und Regel, das für das Erkennen des verbrecherischen Befehls von sehen des Befehlsempfängers von ausschlaggebender Bedeutung ist, sich im Falle der Handlungen Eichmanns in einer Weise verkehrt hatte, daß man mit diesem Argument gerade verteidigen könnte, daß Eichmann bestimmte Himmler-Befehle nicht oder nur zögernd befolgte, was die Urteilsfindung in einem anderen Zusammenhang als besonders belastend für den Angeklagten erkannte. Denn wenn die einschlägige, im Prozeß zitierte Argumentation israelischer Militärgerichte verlangt, daß »das Kennzeichen eines augenscheinlich unrechtmäßigen Befehls … wie eine schwarze Fahne über dem erteilten Befehl wehen muß, wie ein Warnungszeichen, weiches besagt ›Verboten!‹«, so ist offenbar vorausgesetzt, daß der Befehl, um für den Soldaten »augenscheinlich unrechtmäßig« zu sein, den Rahmen des ihm gewohnten Rechtssystems durch seine Ungewöhnlichkeit sprengt. Die israelische Rechtsprechung in diesen Dingen stimmt mit der anderer Länder durchaus überein; zweifellos schweben den Gesetzgebern bei der Formulierung dieser Paragraphen Fälle vor Augen, in denen etwa ein Offizier, der plötzlich verrückt geworden ist, seinen Untergebenen befiehlt, einen anderen Offizier zu töten. Jede normale Gerichtsverhandlung in dieser Sache dürfte wohl sofort an den Tag bringen, daß man sich für die dem Soldaten zugemutete Erkenntnis keineswegs auf die Stimme des Gewissens bzw. ein »Rechtsgefühl« verläßt, »das in den Tiefen jedes Menschen, solange er ein Mensch ist, verankert ist, auch wenn er mit den Gesetzbüchern nicht vertraut ist«, sondern vielmehr darauf, daß ein jeder Regel und auffällige Ausnahme von der Regel zu unterscheiden befähigt ist. Daß das Gewissen nicht genügt, ist zudem ausdrücklich zumindest im § 48 des deutschen Militärgesetzbuches festgelegt: »Die Strafbarkeit einer Handlung oder Unterlassung ist dadurch nicht ausgeschlossen, daß der
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