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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Autoren: Hannah Arendt
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waren auch diese gesellschaftsbildenden moralischen Maximen und die gemeinschaftsbildenden religiösen Gebote gleichsam verschwunden. Diejenigen, die urteilten, urteilten frei; sie hielten sich an keine Regel, um unter sie Einzelfälle zu subsumieren, sie entschieden vielmehr jeden einzelnen Fall, wie er sich ihnen darbot, als ob es allgemeine Regeln für ihn nicht gäbe.
    Wie tief diese Frage des Urteilens und, wie man oft meint, des Aburteilens Menschen unserer Zeit beunruhigt, hat sich auch in dem Streit um das vorliegende Buch wie in dem in vielem ähnlich gelagerten Streit um Hochhuths »Stellvertreter« gezeigt. Weder Nihilismus noch Zynismus, wie man vielleicht hätte erwarten dürfen, aber eine ganz außerordentliche Verwirrung in den Elementarfragen des Moralischen ist zutage getreten, als sei das Moralische nun wahrlich das letzte, was sich in unserer Zeit von selbst versteht. Hierfür sind die zahlreichen Kuriosa, die in diesen Streitigkeiten aufgetaucht sind, vielleicht besonders bezeichnend. So meinte man in amerikanischen Literatenkreisen ganz naiv, daß Versuchung und Zwang eigentlich dasselbe sind, daß man von niemandem verlangen kann, daß er der Versuchung widerstehe. (Wenn jemand dir die Pistole auf die Brust setzt und dir befiehlt, deinen besten Freund zu erschießen, dann mußt du ihn eben erschießen. Oder – vor einigen Jahren anläßlich des Fernsehskandals in dem Quizprogramm, in dem ein Universitätsprofessor geschwindelt hatte – wenn soviel Geld auf dem Spiel steht, wer könnte da widerstehen?) Das Argument, daß man nicht urteilen kann, wenn man nicht dabeigewesen ist, überzeugt jedermann überall, obwohl es doch offenbar sowohl der Rechtsprechung wie der Geschichtsschreibung die Existenzberechtigung abspricht. Im Gegensatz zu diesen Konfusionen ist der Vorwurf der Selbstgerechtigkeit, den man gegen die Urteilenden erhebt, uralt, aber er ist darum nicht begründeter. Auch der Richter, der einen Mörder verurteilt, kann noch sagen, wenn er nach Hause geht And there, but for the grace of God, go I! Alle deutschen Juden verurteilen einstimmig die Welle der Gleichschaltungen, die 1933 durch das deutsche Volk ging und sie von einem Tag zum anderen isolierte. Sollte sich wirklich keiner von ihnen je gefragt haben, wie viele von ihnen sich wohl gleichgeschaltet hätten, wenn man es ihnen erlaubt hätte? Ist darum ihr Urteil weniger berechtigt?
    Die Reflexion auf das eigene mögliche Verhalten kann Anlaß sein, zu verzeihen, aber so meinen es diejenigen, die sich auf christliche Barmherzigkeit berufen, offenbar nicht. So sagt etwa eine Erklärung der »Evangelischen Kirche in Deutschland« nach dem Kriege: »Wir sprechen es aus, daß wir durch Unterlassen und Schweigen vor dem Gott der Barmherzigkeit mitschuldig geworden sind an dem Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen worden ist.« (Zitiert nach Pfarrer Aurel von Jüchen in »Summa Iniuria oder Durfte der Papst schweigen?«, rororo 591, S. 195.) Vor dem Gott der Barmherzigkeit wird, wie mir scheint, ein Christ schuldig, wenn er Böses mit Bösem vergilt. Uns Juden aber ist das Böse unbekannt, um dessentwillen man sechs Millionen Menschen ermordet hat. Haben sich aber die Kirchen, wie sie selbst erklären, an einem Frevel mitschuldig gemacht, so dürfte dafür immer noch der Gott der Gerechtigkeit zuständig sein.
    Worüber man sich in weiten Kreisen der öffentlichen Meinung einig zu sein scheint, ist, daß man überhaupt nicht urteilen dürfe, jedenfalls nicht, wenn das Urteil Personen betrifft, die Ansehen genießen. Der Weg der Argumentation ist immer der gleiche: er biegt von den verbürgten, belegbaren Einzelheiten ab ins Allgemeine, in dem alle Katzen grau und wir alle gleich schuldig sind. Gegen die Anklage, die Hochhuth gegen einen einzelnen Papst erhoben hat und die man dokumentarisch belegen kann, stellt man die Anklage gegen das Christentum überhaupt, oder man sagt: »Zweifellos gibt es Grund für schwere Beschuldigungen, aber der Angeklagte ist das ganze Menschengeschlecht« (Robert Weltsch). Oder den »Einzelheiten«, die für eine Beurteilung immer entscheidend bleiben, wird ein »Gesamtbild« entgegengestellt, in dem alle Einzelheiten bruchlos aufgehen und demzufolge allerdings niemand hätte anders handeln können, als er eben gehandelt hat. Solch ein Gesamtbild ist die »Gettopsychologie« des jüdischen Volkes, das alles wirklich Geschehene zudeckt. Im Rahmen des Politischen gehören zu diesen
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