Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Autoren: Hannah Arendt
Vom Netzwerk:
zu nichts verpflichtenden, leeren Allgemeinheiten die Vorstellungen von einer Kollektivschuld bzw. Kollektivunschuld der Völker, die automatisch des Urteilens und der damit verbundenen Risiken entheben. Und wenn man auch in den Fällen der von der Katastrophe unmittelbar betroffenen Gruppen – der christlichen Kirchen, der jüdischen Führung zur Zeit der »Endlösung«, der Männer vom 20. Juli – verstehen kann, daß es schwerhält, das herzugeben, woran man sich noch gerade halten zu können hoffte, so ist diese Abneigung zu urteilen und das Ausweichen vor aller Verantwortlichkeit, die man einzelnen zuschreiben und zumuten kann, doch so weit verbreitet, daß es mit dieser Art der Motivation letztlich nicht zu erklären ist.
    Es hat sich inzwischen wohl herumgesprochen, daß es eine Kollektivschuld nicht gibt und auch keine Kollektivunschuld und daß, wenn es dergleichen gäbe, niemand je schuldig oder unschuldig sein könnte. Was es aber wohl gibt, ist eine Kollektivhaftung im politischen Bereich, die in der Tat unabhängig ist von dem, was man selbst getan hat, und daher weder moralisch zu werten noch gar in strafrechtlichen Begriffen zu fassen ist. Politisch haftet jede Regierung eines Landes für all das, was durch die Regierung, vor ihr zu Recht oder zu Unrecht geschehen ist. Das Recht soll sie fortsetzen und das Unrecht nach Möglichkeit wiedergutmachen. In diesem Sinne zahlen wir allerdings immer für die Sünden der Väter, und wenn Napoleon bei seinem Machtantritt gesagt haben soll, er gedenke die Verantwortung für alles zu übernehmen, was in Frankreich von Ludwig dem Heiligen bis zum Wohlfahrtsausschuß geschehen ist, so hat er nur das Selbstverständliche ein wenig ausgeschmückt und übertrieben. Man könnte sich wohl denken, daß auch solche Wiedergutmachung zwischen Völkern einmal vor einem internationalen Gerichtshof verhandelt wird, aber dies wird kein Strafgerichtshof sein, in dem über Schuld und Unschuld von Personen Recht gesprochen wird.
    Und um die Frage von Schuld und Unschuld, um die Möglichkeit, Recht zu sprechen und Gerechtigkeit zu üben im Interesse des Verletzten wie im Interesse des Angeklagten, geht es in jedem Strafprozeß; auch im Eichmann-Prozeß konnte es um nichts anderes gehen. Nur daß hier das Gericht mit einem Verbrechen konfrontiert war, das es in den Gesetzbüchern vergeblich suchen wird, und mit einem Verbrecher, dessengleichen man jedenfalls vor Gericht vor den Nürnberger Prozessen nicht gekannt hat. Der vorliegende Bericht handelt davon, wieweit es in Jerusalem gelang, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.
    August 1964
Hannah Arendt

II Der Angeklagte
    In 15 Punkten erhob der Staatsanwalt Anklage gegen Otto Adolf Eichmann, Sohn des Karl Adolf Eichmann und seiner Frau Maria geb. Schefferling, der am Abend des 11. Mai 1960 in einer Vorstadt von Buenos Aires gefangen und 9 Tage später im Flugzeug nach Israel gebracht worden war, um am 11. April 1961 vor das Bezirksgericht von Jerusalem gestellt zu werden. »Zusammen mit anderen« hatte er während des Naziregimes, besonders aber während des Zweiten Weltkriegs, Verbrechen gegen das jüdische Volk, Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen begangen. Die Anklage berief sich auf das Gesetz zur Bestrafung von Nazis und ihrer Helfershelfer von 1950, in dem vorgesehen ist, daß, wer »eine dieser strafbaren Handlungen begangen hat, mit dem Tode bestraft wird«. Auf jeden Punkt der Anklage antwortete Eichmann: »Im Sinne der Anklage nicht schuldig.«
    In welchem Sinne meinte er denn, schuldig zu sein? In dem langen Kreuzverhör des Angeklagten – er nannte es »das längste Kreuzverhör, das überhaupt bekannt ist« – kam es weder dem Verteidiger noch dem Ankläger, noch schließlich einem der drei Richter in den Sinn, ihn danach zu fragen. Die stereotype Antwort auf diese Frage wurde außerhalb des Gerichtssaals der Presse erteilt durch Dr. Robert Servatius aus Köln, den Eichmann mit seiner Verteidigung betraut hatte und den die israelische Regierung bezahlte (dem Präzedenzfall der Nürnberger Prozesse folgend, in denen die Siegermächte die Anwälte der Verteidigung bezahlten): »Eichmann fühlte sich schuldig vor Gott, nicht vor dem Gesetz.« Aber der Angeklagte selbst bestätigte diese Antwort nicht. Der Verteidigung wäre es anscheinend lieber gewesen, wenn sich Eichmann bei seiner Erklärung, er sei nicht schuldig, darauf berufen hätte, daß er nach den seinerzeit gültigen Nazigesetzen nichts
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher