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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Autoren: Hannah Arendt
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liegt, aus Menschen Funktionäre und bloße Räder im Verwaltungsbetrieb zu machen und sie damit zu entmenschlichen, ist von Bedeutung für die Politik- und Sozialwissenschaften, und über die Herrschaft des Niemand, die eigentliche Staatsform der Büro-kratie, kann man sich lange und mit Gewinn streiten. Nur muß man sich darüber im klaren sein, daß die Rechtsprechung diese Faktoren nur insoweit in Betracht ziehen kann, als sie Umstände der Tat sind – genauso wie bei einem Diebstahl die ökonomischen Verhältnisse des Diebes mit in Rechnung gestellt werden, ohne damit jedoch den Diebstahl zu entschuldigen oder gar aus der Welt zu schaffen. Es trifft zu, daß wir durch die moderne Psychologie und Soziologie und nicht zuletzt durch die moderne Bürokratie weitgehend daran gewöhnt sind, die Verantwortung des Täters für seine Tat im Sinne des einen oder anderen Determinismus hinwegzueskamotieren, und ob diese scheinbar tieferen Erklärungen menschlichen Handelns zu Recht oder zu Unrecht bestehen, ist strittig. Nicht strittig aber ist, daß kein Gerichtsverfahren auf ihrem Grunde möglich wäre und daß die Rechtsprechung, an diesen Theorien gemessen, eine höchst unmoderne, um nicht zu sagen: veraltete Institution ist. Wenn Hitler von dem Tage sprach, an dem es in Deutschland als eine »Schande« gelten werde, Jurist zu sein, sprach er ganz konsequent von dem Tage der vollendeten Bürokratie.
    Soweit ich sehen kann, stehen der Rechtswissenschaft für die Erörterung dieses ganzen Fragenkomplexes nur zwei Kategorien zur Verfügung, die m. E. beide in diesem Zusammenhang ganz unzulänglich sind. Es sind dies die Begriffe des »gerichtsfreien Hoheitsaktes« und des Handelns »auf höheren Befehl«. Jedenfalls sind dies die einzigen Kategorien, in denen diese Sachen zumeist auf Antrag der Verteidigung verhandelt werden. Die Theorie des Hoheitsakts stützt sich darauf, daß ein souveräner Staat nicht über einen anderen zu Gericht sitzen kann par in parem non habet jurisdictionem ; praktisch war dies Argument bereits in Nürnberg aussichtslos, weil man ihm zufolge auch Hitler, den einzigen, der ja wirklich im vollen Sinne verantwortlich war, nicht hätte vor Gericht ziehen können, was wiederum dem elementarsten Rechtsgefühl widersprach. Was praktisch aussichtslos ist, ist darum theoretisch noch nicht erledigt, und die üblichen Ausflüchte, daß Deutschland eben zur Zeit des Dritten Reichs von einer Verbrecherbande beherrscht worden sei, der man nicht gut Souveränität und Parität zusichern kann, haben auch nicht viel geholfen, weil ja einerseits jedermann weiß, daß die Analogie mit der Verbrecherbande nur in einem so begrenzten Sinn zutrifft, daß sie eigentlich gar nicht zutrifft, und weil andererseits nicht zu leugnen ist, daß diese Verbrechen sich innerhalb einer »legalen« Ordnung vollzogen, ja, daß dies ihr eigentliches Kennzeichen ist.
    Man kann vielleicht der Sache um einiges näherkommen, wenn man sich klarmacht, daß hinter dem Begriff der Staatshandlung die Theorie von der Staatsraison steht. Ihr zufolge können für das Handeln des Staates, der die Verantwortung für die Existenz des Landes und damit auch für die in ihm geltenden Gesetze trägt, nicht die gleichen Regeln gelten wie für die Einwohner. So wie ein gewisses Ausmaß an Gewalt, deren absolute Herrschaft das Gesetz ja gerade ablöst, immer nötig bleibt, um die Existenz des Gesetzes zu sichern, so mag ein Staat, um seinen Bestand zu sichern, sich gezwungen sehen, Handlungen zu begehen, die gemeinhin als Verbrechen gelten, und zwar nicht nur im Kriegsfall und nicht nur in zwischenstaatlichen Verhältnissen. Solche verbrecherischen Staatsaktionen sind bekanntlich in der Geschichte auch zivilisierter Staaten häufig vorgekommen, man denke an die Ermordung des Herzogs d’Enghien durch Napoleon oder die Ermordung des Sozialistenführers Matteotti, die vermutlich auf Mussolini selbst zurückging. Die Staatsraison beruft sich – je nachdem zu Recht oder zu Unrecht – auf die Notwendigkeit, und die in ihrem Namen begangenen Staatsverbrechen, die auch im Sinne des jeweils herrschenden Rechtssystems durchaus kriminell sind, gelten als Notmaßnahmen, die von realpolitischen Erwägungen erzwungen sind, als Zugeständnisse, um sich an der Macht zu halten und damit das bestehende Rechtssystem im ganzen zu sichern. Wenn aber in einer normalen staatlichen und gesetzlichen Ordnung das Verbrechen als Ausnahme von der Regel auftritt und
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