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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Autoren: Hannah Arendt
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in seinem Schlußwort vor Gericht von der »staatlicherseits vorgeschriebenen Umwertung der Werte« gesprochen; er war nicht dumm. Es war gewissermaßen schiere Gedankenlosigkeit – etwas, was mit Dummheit keineswegs identisch ist –, die ihn dafür prädisponierte, zu einem der größten Verbrecher jener Zeit zu werden. Und wenn dies »banal« ist und sogar komisch, wenn man ihm nämlich beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen kann, so ist es darum doch noch lange nicht alltäglich. Es dürfte gar nicht so oft vorkommen, daß einem Menschen im Angesicht des Todes und noch dazu unter dem Galgen nichts anderes einfällt, als was er bei Beerdigungen sein Leben lang zu hören bekommen hat, und daß er über diesen »erhebenden Worten« die Wirklichkeit des eigenen Todes unschwer vergessen kann. Daß eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen vielleicht innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte. Aber es war eine Lektion und weder eine Erklärung des Phänomens noch eine Theorie darüber.
    Nicht weniger beunruhigend als dieser bisher unbekannte Verbrechertypus ist die Art des Verbrechens, das hier zur Verhandlung stand. Zwar ist sich alle Welt nachgerade darüber einig, daß das, was in Auschwitz geschah, beispiellos ist; aber die Kategorien, mit denen dies Beispiellose nun politisch und juristisch erfaßbar ist, sind immer noch gänzlich ungeklärt. Denn der hierfür neuerdings eingeführte Begriff des Völkermords (Genocid) ist zwar in gewissem Sinne zutreffend, aber nicht ausreichend, schon weil Völkermorde nicht beispiellos sind – sie waren in der Antike an der Tagesordnung, und die Jahrhunderte der Kolonisation und des Imperialismus kennen mehr oder minder geglückte Versuche in dieser Richtung zur Genüge. Der aus dem englischen Imperialismus stammende Ausdruck »Verwaltungsmassenmord« (administrative massacres, den die Engländer bewußt ablehnten als ein Mittel, die Herrschaft über Indien aufrechtzuerhalten) dürfte der Sache erheblich angemessener sein und zudem den Vorteil haben, mit dem Vorurteil, daß solche Ungeheuerlichkeiten nur einem fremden Volk oder einer andersgearteten Rasse gegenüber möglich sind, aufzuräumen. Ganz abgesehen davon, daß Hitler seine Massenmorde bekanntlich mit dem »Gnadentod« der »unheilbar Kranken« begann und die Absicht hatte, sie mit »erbgeschädigten« Deutschen (Herz- und Lungenkranken) zu enden, liegt es auf der Hand, daß das Ordnungsprinzip, nach dem gemordet wird, beliebig bzw. nur von historischen Faktoren abhängig ist. Es ist sehr gut denkbar, daß in einer absehbaren Zukunft automatisierter Wirtschaft Menschen in die Versuchung kommen, alle diejenigen auszurotten, deren Intelligenzquotient unter einem bestimmten Niveau liegt.
    In Jerusalem kam diese Sache ungenügend zur Sprache. weil sie juristisch in der Tat sehr schwer faßbar ist. Wir hörten die Beteuerungen der Verteidigung, Eichmann sei doch nur ein »winziges Rädchen« im Getriebe der »Endlösung« gewesen, und die Meinung der Staatsanwaltschaft, die in Eichmann den eigentlichen Motor entdecken zu können glaubte. Ich selbst habe diesen Theorien ebensowenig Bedeutung beigemessen wie das Jerusalemer Gericht der ersten Instanz, da die ganze Rad-Theorie juristisch belanglos ist und es daher ganz gleichgültig war, in welcher Größenordnung man das »Rädchen« Eichmann unterbringen wollte. Das Gericht gab in seiner Urteilsfindung natürlich zu, daß ein solches Verbrechen nur von einer Riesenbürokratie mit staatlichen Mitteln ausgeführt werden kann; sofern es aber ein Verbrechen bleibt – und dies ist ja die Voraussetzung für die Gerichtsverhandlung –, werden alle Räder und Rädchen im Getriebe vor Gericht automatisch wieder in Täter, also in Menschen zurückverwandelt. Wenn der Angeklagte sich damit entschuldigt, er habe nicht als Mensch, sondern als bloßer Funktionär gehandelt, dessen Funktionen von jedem anderen ebenso hätten ausgeführt werden können, so ist es, als ob ein Verbrecher sich auf die Kriminalstatistik beruft, derzufolge soundso viele Verbrechen pro Tag an dem und dem Orte begangen werden, er also nur das getan habe, was die Statistik von ihm verlangt habe – denn einer muß es dann doch schließlich machen.
    Daß es im Wesen des totalen Herrschaftsapparates und vielleicht in der Natur jeder Bürokratie
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