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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Autoren: Hannah Arendt
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in die erstaunlichsten Konsequenzen diskutiert worden: die alte historisch-soziologische Konstruktion der »Getto-Psychologie«, die in Israel Eingang in die Geschichtslehrbücher gefunden hat und in Amerika vor allem von dem Psychologen Bruno Bettelheim, allerdings gegen den enragierten Widerspruch des offiziellen amerikanischen Judentums, vertreten wird, wurde immer wieder zur Erklärung für ein Verhalten herangezogen, das keineswegs auf das jüdische Volk beschränkt war und also auch nicht aus spezifisch jüdischen Faktoren erklärt werden kann. Bis schließlich jemand, dem das offenbar zu langweilig wurde, auf den genialen Einfall kam, Freudsche Theorien anzuwenden und den Juden einen natürlich unbewußten »Todeswunsch« anzudichten. Der Streit dreht sich ferner um das Verhalten der jüdischen Führung, die man nicht nur kurzerhand mit dem jüdischen Volk identifiziert – sehr im Unterschied zu der klaren Kontrastierung, die in fast allen Berichten von Überlebenden zum Ausdruck kommt und die sich in den Worten eines ehemaligen Theresienstädters zusammenfassen läßt: »Das jüdische Volk in seiner Gesamtheit hat sich fabelhaft benommen. Versagt hat nur die Führung« –, sondern deren Leistungen vor Ausbruch des Krieges und vor allem vor dem Zeitraum der »Endlösung« man aufzählt und in Anspruch nimmt, um die späteren ganz anders gearteten Funktionen zu rechtfertigen. Aber der Streit dreht sich auch um die deutsche Widerstandsbewegung seit Beginn des Hitler-Regimes, von der bei mir natürlich gar nicht die Rede ist, da es sich bei der Frage von Eichmanns Schuldbewußtsein und dem Bewußtsein seiner Umgebung nur um die Zeit der »Endlösung« handelt oder um die phantastische Frage, ob in Zeiten der Verfolgung die Opfer nicht vielleicht immer »häßlicher« sind als die Mörder oder ob man überhaupt über Vergangenes zu Gericht sitzen dürfe, da man doch nicht dabei gewesen war, oder ob in einem Prozeß der Angeklagte oder die Opfer im Mittelpunkt stehen – wobei einige so weit gehen zu meinen, Eichmann hätte gar nicht zu Wort kommen, also vermutlich auch nicht verteidigt werden dürfen – und ähnliches mehr. Wie es in solchen mit einem großen Aufwand von Unsachlichkeit geführten Diskussionen zu gehen pflegt, mischen sich hier in die Erörterung ernster Sachverhalte nicht nur die deutlichen Absichten bestimmter Interessengruppen, die versuchen, die Tatbestände zu fälschen, sondern in ihrem Gefolge erscheint zumeist das Heer jener mehr oder minder »freischwebenden« Intellektuellen, für die umgekehrt die Tatbestände selbst nur ein Anlaß sind, Einfälle zu produzieren. Aber selbst in diesen Spiegelfechtereien ist manchmal ein gewisser Ernst, ein gewisses Betroffensein zu spüren, wenn sie natürlich auch mit dem Buch als solchem nichts zu tun haben, ja ihre Wortführer sich oft rühmen, das Buch gar nicht gelesen zu haben.
    Dies ist auch für eine Diskussion dieser Fragen ganz überflüssig, denn das hier vorliegende Buch hat ein sehr begrenztes Thema, wie bereits sein Titel anzeigt. Im Bericht eines Prozesses kann nur das zur Sprache kommen, was im Prozeß verhandelt wurde oder im Interesse der Gerechtigkeit hätte verhandelt werden müssen. Sind die allgemeinen Umstände des Landes, in dem der Prozeß stattfindet, von Bedeutung für die Prozeßführung, so müssen auch sie in Rechnung gestellt werden. Es handelt sich hier also nicht etwa um die Geschichte der größten Katastrophe, die das jüdische Volk je betroffen hat, noch um die Darstellung des totalen Herrschaftssystems oder um eine Geschichte des deutschen Volkes im Dritten Reich, noch schließlich gar um eine theoretische Abhandlung vom Wesen des Bösen. Im Mittelpunkt jedes Prozesses steht die Person des Angeklagten, ein Mensch aus Fleisch und Blut mit einer individuellen Geschichte, einem immer einmaligen Gemisch von Eigenschaften, Besonderheiten, Verhaltensweisen und Lebensumständen. Alles, was darüber hinausgeht, wie etwa die Geschichte des jüdischen Volkes in der Zerstreuung und der Antisemitismus oder das Verhalten des deutschen Volkes und anderer Völker oder die Ideologien der Zeit und der Herrschaftsapparat des Dritten Reiches, spielt in den Prozeß nur insofern herein, als es den Hintergrund und die Umstände abgibt, unter denen der Angeklagte seine Handlungen begangen hat. Womit er nicht in Berührung gekommen oder was auf ihn ohne Einfluß geblieben ist, muß in der Gerichtsverhandlung und mithin für den Bericht
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