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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
Autoren: Hannah Arendt
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außer Betracht bleiben.
    Man kann der Meinung sein, daß alle die allgemeinen Fragen, die wir unwillkürlich aufwerfen, sobald wir auf diese Dinge zu sprechen kommen: Warum gerade die Deutschen? Warum gerade die Juden? Was ist das Wesen der totalen Herrschaft?, viel wesentlicher sind als die Frage nach der Art des Verbrechens, das zur Verhandlung kommt, und nach dem Wesen des Angeklagten, über den Recht gesprochen werden muß, wesentlicher auch als die Sorge darum, in welchem Ausmaß und unter welchen Bedingungen unser gegenwärtiges Rechtssystem angesichts dieser besonderen Art von Verbrechen, mit denen es sich seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder konfrontiert sieht, der Gerechtigkeit überhaupt fähig ist. Man kann denken, daß es hier gar nicht mehr um einen bestimmten Menschen geht, der in seiner unverwechselbaren Gestalt auf der Anklagebank sitzt, sondern um das deutsche Volk überhaupt oder den Antisemitismus in allen seinen Gestalten oder um die ganze neuzeitliche Geschichte oder um die Natur des Menschen und die Erbsünde, so daß schließlich das gesamte Menschengeschlecht gleichsam unsichtbar mit auf der Anklagebank sitzt. All dies ist oft geltend gemacht worden, nicht zuletzt von denjenigen, die nicht ruhen und rasten, bis sie nicht »den Eichmann in jedem von uns« entdeckt haben. Versteht man den Angeklagten als ein Symbol und den Prozeß als einen Vorwand, um über Angelegenheiten ins Gespräch zu kommen, die anscheinend interessanter sind als die Schuld oder Unschuld eines Menschen, dann muß man auch die Konsequenzen ziehen und zugeben, daß Eichmann und sein Verteidiger zu Recht behaupteten, er habe nur herhalten müssen, weil man einen Sündenbock gebraucht habe, nicht nur für die deutsche Bundesrepublik, sondern für das Geschehen im ganzen und für das, was es ermöglicht habe, also für den Antisemitismus und den totalen Herrschaftsapparat sowohl wie für das Menschen geschleckt und die Erbsünde. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß ich niemals nach Jerusalem gegangen wäre, wenn ich diese Meinungen teilte. Ich war und bin der Meinung, daß dieser Prozeß im Interesse der Gerechtigkeit und von nichts sonst stattfinden mußte, und ich denke auch, daß die Richter, als sie in der Urteilsbegründung betonten, daß der »Staat Israel als Judenstaat gegründet und als solcher anerkannt« ist und daß ihm daher Strafhoheit für ein am jüdischen Volk begangenes Verbrechen zusteht, sich mit vollem Recht auf Grotius beriefen, der, seinerseits einen älteren Autor zitierend, dargelegt hat, wie die Würde und Ehre des Verletzten es erfordere, daß Straftaten nicht frei ausgehen.
    Nun ist es keine Frage, daß sowohl die Person und die Tatumstände als auch das Gerichtsverfahren selbst Probleme allgemeiner Natur aufgeworfen haben, die weit über das in Jerusalem Verhandelte hinausgehen, und ich habe versucht, auf einige dieser Probleme in dem Epilog dieses Buches, der nicht mehr einfache Berichterstattung ist, einzugehen. Sicher ist das sehr unzulänglich geschehen, und ich könnte mir gut vorstellen, daß nach Einsicht in die Tatbestände eine Diskussion ihrer allgemeinen Bedeutung entsteht, die um so sinnvoller sein könnte, je unmittelbarer sie den konkreten Bezug wahrt. In diesem Sinne könnte ein echter Streit sich auch über den Untertitel des Buches erheben; denn in dem Bericht selbst kommt die mögliche Banalität des Bösen nur auf der Ebene des Tatsächlichen zur Sprache, als ein Phänomen, das zu übersehen unmöglich war. Eichmann war nicht Jago und nicht Macbeth, und nichts hätte ihm ferner gelegen, als mit Richard III. zu beschließen, »ein Bösewicht zu werden«. Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive; und auch diese Beflissenheit war an sich keineswegs kriminell, er hätte bestimmt niemals seinen Vorgesetzten umgebracht, um an dessen Stelle zu rücken. Er hat sich nur, um in der Alltagssprache zu bleiben, niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte . Es war genau das gleiche mangelnde Vorstellungsvermögen, das es ihm ermöglichte, viele Monate hindurch einem deutschen Juden im Polizeiverhör gegenüberzusitzen, ihm sein Herz auszuschütten und ihm wieder und wieder zu erklären, wie es kam, daß er es in der SS nur bis zum Obersturmbannführer gebracht hat und daß es nicht an ihm gelegen habe, daß er nicht vorankam. Er hat prinzipiell ganz gut gewußt, worum es ging, und
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