Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ehrensachen

Ehrensachen

Titel: Ehrensachen
Autoren: Louis Begley
Vom Netzwerk:
sollten erst ein paar Tage später beginnen, aber die Wohnheime waren geöffnet, und es gab Informationsveranstaltungen für Erstsemester. Ich hatte meiner Mutter versichert, ich könne samt Kabinenkoffer mit dem Bus nach Cambridge fahren; sie brauche mich nicht hinzubringen. Zu meiner Überraschung hatte sie jedoch darauf bestanden. Da sie aber am Abend mit meinem Vater zum Essen ausgehen würde, wollte sie nicht mit mir zu Mittag essen. Statt dessen drückte sie mir ein paar Scheine in die Hand, ungefähr so viel, wie das Mittagessen zu zweit sie nach ihrer Schätzung gekostet hätte, und fuhr dann ab, sobald ich mein Gepäck aus dem Kofferraum geholt hatte. Ich schaffte alles ins Wohnzimmer des Apartments, für das ich eingeteilt war, und merkte, daß ich nicht der erste Ankömmling war. Irgend jemand hatte sein Gepäck schon mitten ins Zimmer gestellt. Als ich dann den Kopf in eines der Schlafzimmer steckte, sah ich Henry.
    Nach einem Sandwich mit Thunfischsalat bei Hayes-Bickford ging ich wieder ins Studentenheim. Vielleicht hatte Henry am Fenster nach mir Ausschau gehalten. Jedenfalls machte er mir die Wohnungstür auf, bevor ich den Schlüssel im Schlüsselloch umdrehen konnte, und sagte, er sei froh, daß ich so bald zurückgekommen sei. Er habe eine praktische Frage: ob es mir egal sei, welches Schlafzimmer er nehme? Die letzte Nacht habe er dort geschlafen, wo ich ihn gefunden hätte, aber damit habe er keine Vorentscheidung treffen wollen, und er sei bereit umzuziehen. Er bat mich, mit ihm in das Schlafzimmer zu kommen, das er sich wünschte, und zeigte nach rechts, in Richtung eines dunklen Backsteingebäudes mit Hörsälen, das aussah wie ein Wal.
    Das ist Sever, sagte er, ein H.-H.-Richardson-Entwurf, und hier, genau vor uns, ist die Memorial Church.
    Ich sagte, er könne das Zimmer behalten. Die drei Räume waren alle gleich groß, und an der Aussicht lag mir nichts. Damals wußte ich nicht, daß der Sever-Bau ein Meisterwerk amerikanischer Architektur des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts ist, aber selbst wenn ich es gewußt hätte, wäre meine Reaktion nicht anders gewesen. Ich rechnete nicht damit, viel Zeit am Fenster zu verbringen. Henry freute sich und setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl, während ich auspackte. Als ich fertig war, half er mir beim Bettenmachen.
    Ich fand, nun sei das Eis gebrochen, und deshalb fragte ich, warum er nicht wenigstens mit ihr gesprochen habe. Schließlich habe sie ganz offensichtlich versucht, mit ihm anzubändeln. Henry schüttelte den Kopf und sagte, das sei ganz ausgeschlossen. Der Zeitpunkt sei fatal verkehrt. Zwar hätte er ihr folgen können, um wenigstens herauszufinden, ob sie zum Radcliffe ging und in welchem Studentenheim sie wohnte, aber er habe doch diese auffallendenroten Haare. Man würde ihn sofort erkennen. Hätten das Mädchen oder die Mutter sich umgedreht und ihn gesehen, hätten sie gleich gewußt, daß er derjenige war, und dann mußten sie denken, er sei ein Spinner, der keinen Spaß verstehe. Das hätte alles verdorben. Er müsse noch warten.
    Du bist ein Spinner, sagte ich. Es kann überhaupt nichts schaden, wenn Mutter und Tochter wissen, daß du dem Mädchen, das sich die Mühe gemacht hat, dir Küsse zuzuwerfen, die Hand geben möchtest.
    Wieder schüttelte er den Kopf. Der falsche Zeitpunkt, sagte er, das habe ich doch gesagt. Die Sterne stehen nicht günstig. Ich muß noch warten.
    Es ging mich nichts an, und ich hätte wohl nicht bei einem Thema bleiben sollen, das ihm unbehaglich war. Aber da mir blühte, ein Jahr lang mit Henry zusammenzuwohnen, hielt ich es für mein gutes Recht, zu prüfen, ob er ein aufgeblasener Trottel oder wirklich nicht ganz richtig im Kopf war.
    Lange beschäftigte mich diese Frage nicht. Schon nach wenigen Wochen hatte Henry entschieden, daß wir enge Freunde waren – zu diesem Schluß war ich noch nicht gekommen –, und weihte mich dermaßen schonungslos offen und ausführlich in seine Gefühle ein, daß ich mir manchmal wünschte, ich hätte es ihm – wodurch auch immer – nicht ganz so leicht gemacht. Unaufgefordert sprach er wieder von dem Mädchen und seinem eigenen, wie er zugab, sonderbaren Benehmen. Nicht Schüchternheit habe ihn gebremst, sondern die Überzeugung, daß er sich erst zu einem passenden Kandidaten machen müsse oder zwangsläufig abgewiesen werde – nicht nur von diesem Mädchen und dessen Mutter, sondern von jedem Mädchen, das er attraktiv fand.
    Und nicht nur die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher