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Ehrensachen

Ehrensachen

Titel: Ehrensachen
Autoren: Louis Begley
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wichtig waren, sahen das Heim als Lagerraum für Abgewiesene. Das war bitter. Es hätte zu Verstimmungen zwischen Henry und Archie führen können, denn Henry glaubte, ohne ihn würde man Archie aufgenommen haben. Archie, der ein Ehrenmann war, hielt dagegen, sie seien beide gleich unerwünscht, und ließ sich davon nicht abbringen.
    Am Ende gab es auch zwischen den beiden und mir keine Mißstimmung. Bevor wir alle drei uns um einen Platz in dem Haus bewarben, hatte ich ihnen gesagt, ich würde um eine Wohnung für eine Einzelperson bitten und lieber keine mit ihnen teilen. Als Grund dafür gab ich an, daß wir keineChance hätten, eine Suite mit drei Schlafzimmern und einem Wohnzimmer zu bekommen, und da ich unbedingt ein Zimmer für mich allein brauchte, könnten wir nicht mehr so wie bisher zusammenwohnen. Ihre prompte Reaktion war das Angebot, ich könne das Einzelzimmer haben, sie würden das Zweibettzimmer nehmen, aber ich blieb fest, obwohl ich gern mit Henry zusammengewohnt hätte. Wohnungen für eine Person waren in den Häusern rar, deshalb hatte ich vermutet, daß wahrscheinlich ich der sein würde, der allein in einem Wohnheim für Abgewiesene landete und lebte. Ich war überrascht, als Peabody mir mitteilte, daß ein Student im dritten Jahr, der in einer solchen Suite gewohnt hatte, das College verlasse und ich seinen Platz gern einnehmen könne.
    Die Zwänge unseres verwöhnten College-Lebens kann man sich vielleicht auch nicht mehr vorstellen. Sie beruhten auf der unausgesprochenen Überzeugung, daß es zu den Zielen höherer Erziehung gehöre, die sexuelle Aktivität der Jugendlichen hinauszuzögern, indem man sie zur Teilnahme an anstrengenden sportlichen Übungen ermunterte und die Gelegenheiten zu privaten Kontakten mit dem anderen Geschlecht begrenzte. Deshalb wohnten in den Studentenheimen und Häusern des Harvard College nur männliche Studenten. An sich gab es keine Studentinnen in diesem College, aber eine Formel namens »gemeinsamer Unterricht« brachte eine kleine Minderheit von Radcliffe-Mädchen in alle Kurse außer Astronomie und Leibeserziehung. Das eine Fach erforderte nächtliche Exkursionen zur Sternbeobachtung, die Gelegenheit zu Fehlverhalten bieten mochten. Daß gemeinsamer Turnunterricht ausgeschlossen war, bedurfte keiner Erklärung, die Anwesenheit von Mädchen in einer sportlichen Einrichtung für Männer schien undenkbar. Der Sprachgebrauch, der festlegte, daß die Radcliffe-Studentinnen Mädchen waren, wir dagegen Männer, wurde vonniemandem in Frage gestellt. Damenbesuche in Harvards Wohnheimen und Häusern unterlagen strengen Beschränkungen. Der Zutritt zu den Wohnheimen war für Studentinnen verboten; wer mit einem Mädchen verabredet war, durfte jedoch im Gemeinschaftsraum im Erdgeschoß ihres Heims warten, bis seine Freundin kam; wie mir später klar wurde, hatte dieser Raum eine fatale Ähnlichkeit mit dem Aufenthaltsraum eines besseren Bestattungsunternehmens. In unserem ersten Jahr am College durften Mädchen sich am Nachmittag zwischen vier und sieben Uhr in den Studentenheimen für Männer aufhalten; in den folgenden Semestern wurde die Besuchszeit nach und nach verlängert, bis schließlich in meinem vierten Jahr Mädchen an Samstagen – und vielleicht auch an Freitagen – nicht vor elf Uhr gehen mußten. Schlag elf Uhr strömten aus den Häusern und Heimen Paare, deren abgespannte Gesichter und vom Duschen nasse Haare Zeugnis ihrer Liebesübungen und ihrer sorgsam betriebenen persönlichen Hygiene waren. Die Besuchsregel gebot auch, daß Mädchen auf einer Liste ein- und ausgetragen wurden, die in den Wohnheimen vom Proktor und in den Häusern vom Portier verwaltet wurde. Mit den Besucherinnen durfte man sich im Wohnzimmer der Suite unterhalten, wobei die Tür zum Flur offenstehen mußte, so daß ein Proktor oder Tutor, wenn ihm danach war, nachsehen konnte, ob die Intimitäten auf Gespräche samt dem dazugehörigen Rauchen und Trinken beschränkt blieben.
    Seit meiner ersten Begegnung mit Henry und Archie hatte ich, wahrscheinlich nicht weniger als der schwer einzuschätzende Hausherr, darüber nachgedacht, welcher administrative Vorgang uns aus gut tausend Studienanfängern herausgepickt und zu Zimmergenossen gemacht habe. Waren wir die letzten drei aus unserem Jahrgang, für die eine Unterkunft gefunden werden mußte, oder waren dieZimmer, die man uns zuwies, die einzigen noch übrigen? Wurden solche Fragen durch Würfeln auf dem purpurroten Teppichboden im
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