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Der Weg in Die Schatten

Titel: Der Weg in Die Schatten
Autoren: Brent Weeks
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    Azoth hockte in der Gasse, kalten Schlamm zwischen den nackten Zehen. Er starrte auf den schmalen Spalt unter der Wand einer Schenke und versuchte, all seinen Mut zusammenzuraffen. Die Sonne würde erst in einigen Stunden aufgehen, und die Taverne war verlassen. Die meisten Tavernen in der Stadt hatten Böden aus festgestampftem Lehm, aber dieser Teil der Vorstadt war über Sumpfland erbaut worden, und nicht einmal Betrunkene standen gern knöcheltief im Schlamm. Daher stand die Taverne auf Stelzen einige Zoll über der Erde und hatte einen Boden aus kräftigem Bambusrohr.
    Manchmal fielen Münzen durch die Ritzen zwischen den Bambusstämmen. Die meisten Menschen waren zu groß, um unter die Stelzenbauten zu kriechen und dort das Verlorene zu suchen. Das traf sogar für die Größeren in der Gilde zu, und die Kleineren hatten zu viel Angst, um sich in die erstickende Dunkelheit zu quetschen, die sie mit Spinnen, Küchenschaben, Ratten und dem boshaften, halbwilden Kater des Besitzers teilen mussten. Am schlimmsten war der Druck der Bambusstäbe im Rücken, wann immer ein Gast darüber hinwegging. Ein Jahr lang war es Azoths Lieblingsstelle gewesen, aber er war nicht mehr
so klein wie früher. Beim letzten Mal hatte er festgeklemmt und Stunden der Panik durchlebt, bis es regnete und der Boden unter ihm weich genug wurde, um sich auszugraben.
    Jetzt war der Boden schlammig, und es würden keine Gäste da sein; außerdem hatte Azoth den Kater weggehen sehen. Es sollte eigentlich gelingen. Überdies sammelte Ratte morgen den Gildepfennig ein, und Azoth hatte keine vier Kupfermünzen. Er besaß nicht einmal eine, daher hatte er keine große Wahl. Ratte war keineswegs verständnisvoll, und er kannte seine eigene Kraft nicht. Kleine waren schon unter seinen Schlägen gestorben.
    Azoth schob Berge von Schlamm beiseite und legte sich auf den Bauch. Die feuchte Erde durchnässte sofort sein dünnes, schmutziges Hemd. Er würde schnell arbeiten müssen. Er war mager, und wenn er sich eine Erkältung holte, standen die Chancen auf Genesung nicht gut.
    Während er in die Dunkelheit eintauchte, suchte er nach dem verräterischen, metallischen Glänzen. In der Taverne brannten noch immer zwei Lampen, daher fiel Licht durch die Ritzen und beleuchtete den Schlamm und das stehende Wasser in seltsamen Rechtecken. Schwerer Sumpfnebel kroch an den Lichtstrahlen hinauf, nur um immer wieder herabzufallen. Spinnweben zogen sich über Azoths Gesicht und zerrissen, und er spürte ein Kribbeln im Nacken.
    Abrupt erstarrte er. Nein, es war nur Einbildung. Langsam atmete er aus. Etwas glitzerte, und er eroberte seine erste Kupfermünze. Dann rutschte er zu dem rauen, unbearbeiteten Kiefernbalken hinüber, unter dem er beim letzten Mal festgesessen hatte, und schaufelte Schlamm beiseite, bis Wasser die Vertiefung füllte. Die Lücke war so schmal, dass er den Kopf zur Seite drehen musste, um sich darunter hindurchzuzwängen. Mit angehaltenem
Atem drückte er das Gesicht in das schleimige Wasser und kroch langsam weiter.
    Sein Kopf und seine Schultern schafften es hindurch, aber dann verfing sich ein Aststummel der Kiefer in seinem Hemd, riss den Stoff auf und stach ihn in den Rücken. Er hätte beinahe aufgeschrien und war sofort froh, dass er es nicht getan hatte. Durch eine breite Lücke zwischen zwei Bambusrohren sah Azoth einen Mann an der Theke sitzen, der noch immer trank. In den Tavernen musste man Menschen schnell beurteilen können. Selbst wenn man flinke Hände hatte wie Azoth - wer tagtäglich stahl, würde unweigerlich irgendwann geschnappt werden. Alle Kaufleute schlugen die Gilderatten, die sie bestahlen. Wenn sie wollten, dass ihnen überhaupt Waren zum Verkaufen übrig blieben, mussten sie es tun. Der Trick bestand darin, diejenigen auszuwählen, die einen schlugen, damit man es beim nächsten Mal nicht an ihrem Stand versuchte; es gab andere, die einen so übel verprügelten, dass es kein nächstes Mal gab. Azoth glaubte, bei dieser schlaksigen Gestalt so etwas wie Freundlichkeit, Traurigkeit und Einsamkeit zu erkennen. Der Mann war vielleicht dreißig, mit einem zotteligen, blonden Bart und einem riesigen Schwert an der Hüfte.
    »Wie konntest du mich im Stich lassen?«, flüsterte der Mann so leise, dass Azoth die Worte kaum ausmachen konnte. Er hielt eine bauchige Weinflasche in der linken Hand und drückte mit der rechten etwas an sich, das Azoth nicht sehen konnte. »Nach all den Jahren, die ich dir gedient habe, wie
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