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Ehrensachen

Ehrensachen

Titel: Ehrensachen
Autoren: Louis Begley
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Büro eines Verwaltungsangestellten entschieden? Wie meine Zimmergenossen sagten, hatte keiner von ihnen den College-Fragebogen eingeschickt, der nach Wünschen bezüglich ihrer Mitbewohner gefragt hatte. Ich hatte einen ausgefüllt und rechtzeitig im beigelegten Briefumschlag zur Post gebracht, aber ich hatte nur einen Wunsch geäußert: nicht mit Absolventen einer der neuenglischen Prepschools zusammenzuwohnen, sondern mit Männern aus anderen Teilen des Landes. Mindestens die Hälfte unseres Jahrgangs muß diesem Kriterium entsprochen haben. Als Grund für meinen Wunsch gab ich an, daß ich gern Leute von unterschiedlicher Herkunft kennenlernen würde. Das war nicht falsch. Aber ich hatte noch ein stärkeres, unausgesprochenes Motiv: Ich wollte allen Studenten aus dem Weg gehen, die wie ich aus den Berkshires stammten oder meine Eltern und deren Ruf aus anderen Quellen kannten. Ich muß gewußt haben, daß die Schranke, die ich zu errichten hoffte, durchlässig war. Wäre ich entschlossener gewesen, hätte ich mir sogar ein College ausgesucht, das weit weg war, an der Westküste zum Beispiel. Meine Eltern hätten mich nicht ernsthaft daran gehindert, obwohl sie es schmeichelhaft fanden, daß ich in Harvard studierte. Und mit Sicherheit hätte ich mich nicht auf die Diskretion von George Standish verlassen, dem einzigen aus meinem Jahrgang, der vermutlich alles wußte, was ich verbergen wollte, denn sein Vater war der Cousin meines Vaters. Meine Eltern hatten mir erzählt, daß George sich um die Zulassung zum Harvard College beworben hatte; von ihnen erfuhr ich dann auch, daß er angenommen worden war. Mein Vater hatte sogar schüchtern angeregt, daß ich George doch eventuell fragen könnte, ob er mit mir zusammenwohnen wolle. Ich warf ihm einen abschätzigen Blick zu und sagte, ich hätte keine Lust, mir eine Abfuhr zu holen. Außerdem, fügte ich hinzu, hätte George sich längst anders verabredet. Im zweiten Punkt hatte ich recht: Georges drei Mitbewohner im ersten Jahr waren alle mit ihm in die Schule gegangen und alle aus demselben teuren Holz geschnitzt wie er.
    Wie diskret George war, konnte ich nicht wissen, dafür hatte ich keinen Anhaltspunkt. Wir kannten uns zuwenig. Wäre ich älter und erfahrener gewesen, hätte mich vielleicht der Gedanke an die Gleichgültigkeit der meisten Menschen und ihren elementaren Mangel an Neugier auf das Leben anderer beruhigt. Ich hätte auch begriffen, daß der Klatsch über meine Eltern banal war und höchstwahrscheinlich niemanden interessierte, abgesehen von einigen Bekannten, denen ihre trübselige Geschichte ohnehin nicht neu war. Sonst würde niemand in unserem Alter den Tratsch über so einen wie meinen Vater hören wollen, einen ganz netten Kerl aus guter Familie, der fast all sein Geld verloren oder verplempert hatte, als Angestellter in der Treuhandabteilung einer kleinen Bank in einem häßlichen Städtchen arbeitete, in dem es nur eine einzige Fabrik gab, der mit Ehefrau und Sohn ein für seine Verhältnisse zu üppiges Haus seiner Vorfahren bewohnte, mit einem Oldsmobile zur Arbeit fuhr und im Country Club mittelmäßig Golf spielte. War sein Fall pikanter, weil die Bank, die sein reicher kluger Cousin ersten Grades leitete, eine Gründung der Familie und noch immer in deren Besitz war? Angestellter dieses jüngeren Cousins zu sein war eine Qual für meinen Vater, der es weiter gebracht hätte, wäre er stärker und weniger träge gewesen. Das war ihm nicht gegeben; er war steckengeblieben. Der Rest war abgeschmackt und trivial, bestand nur in Details über den Martinikonsum meines Vaters und meiner Mutter vor dem Mittag- und Abendessen; über die sogar für ihre trinkfesten Kumpane auffallend großen Scotch- und Soda-Mengen, die sie danach zu sich nahmen, und außerdem über die heftigenFlirts – oder auch mehr – meiner Mutter mit dem Versicherungskaufmann Gus Williams und dem im Krieg hoch dekorierten Grundstücksmakler Tim Clark, zwei Säufern, die für ihren ausschweifenden Lebenswandel berüchtigt waren. Daß es in den Berkshires andere Paare mit ähnlich schlecht gehüteten Geheimnissen geben mochte, von denen ich zwei oder drei zu kennen glaubte, machte es nicht besser, und die Vorstellung, daß ein bloßer Zufall bei der Wohnungsverteilung – so wie der, dem ich das gemeinsame Quartier mit Henry und Archie verdankte – mich auch mit jemandem hätte zusammenspannen können, dessen Verachtung oder Mitleid ich spüren würde, diese Vorstellung war
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