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Ehrensachen

Ehrensachen

Titel: Ehrensachen
Autoren: Louis Begley
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bereute, nicht als Bremse. Vielleicht verstand sie die Anspielung nicht. Wenn ich aber aufpaßte und die richtige Antwort gab, folgte die Unterhaltung einem zwar langweiligen, aber nicht bedrohlichen Muster. Sie erzählte mir dann jedesmal, wie viele Stunden oder Tage vergangen seien, seit sie zum letzen Mal von ihrem einzigen Sohn gehört habe, sie flehte mich an, Henry daran zu erinnern, daß er noch immer Eltern habe, die ihn liebten und sich Sorgen um ihnmachten. Sie beendete das Gespräch meist mit einer Wendung wie: »Sterben Ihre Eltern nicht vor Sorge, wenn Sie nicht anrufen?« Ich gab nie zu, daß das Gegenteil der Fall war: daß meine Mutter und mein Vater – angenommen, ich erreichte sie an einem Abend zu Hause, an dem sie nüchtern waren – allenfalls in Panik gerieten, wenn sie meine Stimme hörten und ich nicht sofort klarmachte, daß ich nicht anrief, um eine Katastrophe zu melden. Wenn ich dann erklärt hätte, daß ich nur Hallo sagen wollte, würden sie entweder ungläubig lachen oder mir raten, in die Krankenstation zu gehen und mir Fieber messen zu lassen.
    Mrs. Whites gelegentliche Versuche, sich mädchenhaft zu geben – sie machte es ganz anders als meine Mutter –, fand ich bezaubernd, vielleicht wegen gewisser Eigenarten ihrer Aussprache und Diktion, vielleicht auch, weil sie voraussetzte, daß wir mit vereinten Kräften um die Fortdauer der Zuneigung ihres Sohnes kämpften. Sie flirtete mit mir, und nach und nach wurden wir Telefonfreunde. Sie fragte nach meinen Eltern und meinem Studium, manchmal erkundigte sie sich auch nach Archie, mit dem sie wenig Kontakt hatte, weil er sich selten im Zimmer aufhielt, wenn sie anrief, und, falls er zufällig einmal da war, kaum je den Hörer abnahm. Er behauptete, er könne sich nicht merken, was er ausrichten solle. Seine Eltern riefen nie an, genau wie meine, und andere Anrufe ließ er lieber von mir filtern. Manchmal flocht Mrs. White ein kleines Kompliment ein. Zum Beispiel sagte sie, es sei wunderbar, daß ich die ganze Zeit am Schreibtisch säße und meine Aufgaben machte. Sie redete mich mit Herr Mitbewohner an und blieb dabei, obwohl ich sie bat, mich beim Vornamen zu nennen.
    Ich fragte mich, was Henry wohl von dem spärlichen Tröpfeln der Kommunikation zwischen seinen Mitbewohnern und deren Eltern hielt. Daß er bemerkt hatte, wie sehr sich unsere Gewohnheiten von den seinen unterschieden,stand fest; er merkte alles, davor hatte er mich gewarnt. Aber hielt er es für einen Mangel? Verstand er es als Zeichen dafür, daß unsere Eltern wenig Interesse an uns hatten oder daß wir herzlos unsere Kindespflicht versäumten? Offene Mißbilligung erwartete ich nicht von ihm, dazu war er zu höflich. Eines Abends nach einem Kinobesuch kam das Thema jedoch zur Sprache. Er fragte ganz direkt, ob ich meine Eltern anriefe, wenn er nicht im Zimmer sei, oder von einem öffentlichen Telefon aus. Wenn nicht, würde man denken, meine Eltern und ich hätten kaum Kontakt. Ob es mit Archie und seinen Eltern genauso sei, habe er sich auch gefragt. Die komplizierten Probleme meiner Familie waren nicht zu ändern, und ich war nicht bereit, sie Henry auseinanderzusetzen. Also redete ich mich mit einer halben Wahrheit heraus. Ich sagte, ich sei als Dreizehnjähriger ins Internat geschickt worden, und meine Eltern und ich hätten uns wahrscheinlich allmählich daran gewöhnt, daß ich fern von zu Hause war. Sie machten sich keine Sorgen um mich.
    Er unterbrach: Ich war nie von meiner Mutter getrennt, bis ich hierher gekommen bin.
    Ich sagte: Ich hab’s anders getroffen als du, das ist alles. Ich rufe auch zu Hause an, aber nur, wenn es etwas Wichtiges gibt.
    Aber das heißt, daß du die Verbindung mit deinen Eltern verloren hast.
    Ich erwiderte, daß ich ihnen von Zeit zu Zeit schrieb und daß meine Mutter mir ziemlich oft einen Brief mit Neuigkeiten aus den Berkshires schickte. Henry sagte, ja, er habe die lavendelblauen Umschläge mit meiner Adresse in der Schulmädchenschrift meiner Mutter und ihrem Absender, immer in der linken oberen Ecke, gesehen. Und ich telefoniere auch, fuhr ich fort, zu ihrem Geburtstag, letzte Woche erst, habe ich sie angerufen.
    Am nächsten Tag fing er übergangslos wieder von den Beziehungen zwischen Eltern und Söhnen an: Die seinen erwarteten zweimal pro Woche einen Brief von ihm und jeden zweiten Tag einen Anruf. Ich gab zu, daß seine Mutter mir die Sache mit den Anrufen schon erzählt hatte. Das schien er zu überhören.
    Wenn
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