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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind
Autoren: Annika Reich
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nicht Partnerin im Büro werden wollte, aber das hatte sie noch nie wirklich gereizt, auch wenn sie gerne arbeitete und ihr das Büro gefiel: die großen, aufgeräumten Tische, die weißen Computer, das ausgewählte Geschirr in der Teeküche. Dass sie Architektin geworden war, hätte ihrem Vater nicht gefallen. Und die Bücher, hätte er gefragt.
    Und wie sollte man sich auch fühlen als Tochter eines japanischen Goethe-Experten, die seit ihrer Ankunft noch kein einziges Buch vom Weimarer Großmeister in der Hand gehalten hatte? Wie sollte man mit Überzeugung in Berlin Häuser ohne Versmaß und Reimform bauen, wenn man seine ganze Kindheit mit deutscher Dichtung verbringen musste, wenn man als einzige Japanerin in einer deutschen Schule gewesen war und eine Mutter hatte, die dachte, Goethe sei ein Füllwort, das man im Deutschen in jedem dritten Satz verwendete? Das Häuserbauen hatte keine Werther’sche Dringlichkeit, keine Faustische Kraft und schon gar nicht die Zartheit von Gretchen; nur das Arbeiten selbst war etwas wert, der Fleiß, die Zielstrebig- und Pünktlichkeit, das schätzte sie,daran hielt sie sich. Und die Männer natürlich, aber das war etwas anderes.
     
    Sie trank einen Schluck Kaffee, setzte sich auf die freie Fensterbank und schaute hinaus. Sie hatte sogar ein Semester Germanistik studiert gleich nach ihrer Ankunft, aber es hatte ihr nicht gefallen. Das Institut war verstaubt, die Diskussionen langweilig, und in den Vorlesungen saßen viel zu wenig Männer. Gelohnt hatte es sich trotzdem, denn dort hatte sie ihre erste Freundin in Berlin kennengelernt: Friederike. Friederike war ihr gleich aufgefallen, weil sie mehr Locken und Elan hatte als alle anderen und in einer der ersten Seminarsitzungen in die Runde geworfen hatte, dass Fontane ein bisschen mehr Haiku nicht geschadet hätte. Friederike nannte sich Fritz und war auch ansonsten so sprudelig, dass Yoko immer gute Laune bekam, wenn sie sie sah.
    Nach einem Semester mit Fritz, aber ansonsten ohne Lust und vor allem ohne Goethe, brach sie ihr Studium ab und wechselte zu den Architekten an die Universität der Künste. Dort traf sie nach einer Weile und unzähligen gutaussehenden Mitstudenten, Dozenten und Professoren Siri, die schon morgens auf hohen Schuhen durch die Gänge stelzte, an jedem erdenklichen Ort rauchte, von den Scharen der Verehrer seltsam unberührt blieb und ihre zweite Freundin wurde. Das Architekturstudium gefiel ihr, sie jobbte nachts in Bars und begann während der langen U-Bahn-Fahrten zur Uni, japanische Meister zu lesen. Tagsüber zeichnete sie Pläne, baute filigrane Modelle und nahm an dutzenden Wettbewerben teil. Gleich nach dem Studium bekam sie ihren ersten Job in dem Büro, in dem sie jetzt immer noch arbeitete, und bald stellte sich heraus, dass sie es wie keine andere verstand, mit Licht und Schatten umzugehen.
     
    Der Mann von Alisons Fest hatte über das Weiß ihrer Haut gesprochen. Er meinte, er habe solche Schattierungen auf einem so leuchtenden Weiß noch nie gesehen. Weiße Dunkelheit hatte er es genannt und gesagt, dass sich die weiße Dunkelheit in jedem kleinsten Tal ihres Körpers verfangen hätte – zwischen ihren Fingern und Zehen, in ihrem Nacken, in den Rundungen ihrer Ohren, ihrem Schoß. Das war eine sehr japanische Sichtweise. Ob er nach ihr rufen würde, wenn er aufgewacht war? Ob er sich noch einen Kaffee machen würde, weil er davon ausging, dass sie gleich wiederkäme? Er hatte sich alles ganz genau angeschaut, so als hätte er alle Zeit der Welt oder als hätte die Ruhe keine Schluchten. Jetzt würde er sich Zeit nehmen, ihre Wohnung zu erforschen, und auf sie warten; und die Räume wären nach diesem Tag andere. Sein Blick hatte Spuren auf ihrer Haut hinterlassen, die sie jetzt noch spürte.
     
    Auf dem Weg ins Büro merkte sie, dass sie wie eine Frau aus dem Westen ging, dass sie ihre Füße hob und die Fußflächen gerade aufsetzte. Klaus, ihr Chef, war auch da, obwohl Sonntag war. Er schaute ihr lange in die Augen. Er schien ihr anzusehen, dass sie die Nacht nicht mit Schlafen verbracht hatte, und fragte lächelnd: »Was hast du denn hier zu suchen?«
    »Und du?« fragte sie zurück und schloss die Tür hinter sich.
    »Ich brauche Ruhe«, antwortete er.
    »Ich auch.«
    »Du siehst müde und glücklich aus«, sagte er leise, »das macht mich eifersüchtig«, und wandte sich wieder seinen Entwürfen zu.
    Sie wollte etwas antworten.
    »Ich weiß, ich weiß«, kam er ihr zuvor.
    »Mich
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