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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind
Autoren: Annika Reich
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zum Flughafen Tegel gefahren, um nach Japan zu fliegen. Schon wieder eine Geschäftsreise. Beim Frühstück hatte er darauf bestanden, ihr die Butter aufs Brot zu schmieren, sie mit Ei und Obstsalat zu füttern, ihr einen Saft und noch einen zu pressen – so als müsste sie damit bis zu seiner Rückkehr auskommen. Als die Tür ins Schloss fiel, weinte sie, obwohl sie es gewöhnt war, dass er weg war, denn er war andauernd weg. Nach ein paar Minuten hatte es noch einmal an der Tür geklingelt, und sie hatte mit geröteten Augen geöffnet. Victor war die Treppen hochgestürmt, hatte sie geküsst und gesagt, dass er das noch vergessen hätte. Auch er genoss den sternennahen Raum ihrer Gemeinsamkeit, auch er brauchte ihn, um in die Welt aufbrechen zu können.
    Nach seinem letzten Kuss hatte sie sich an ihren Schreibtisch gesetzt und ein paar Sternzeichen-Illustrationen für einMagazin gezeichnet, die Mitte nächster Woche fertig sein mussten. Sie war weit gekommen, hatte eine Linie nach der anderen über das weiße Papier gezogen und sich dabei über die melancholischen Gesichter von Wassermann und Schütze gewundert.
     
    Ihre roten Haare bedeckten nun fast Victors ganzes Kopfkissen. Sie strich über seinen Pyjama, den er letzte Nacht nicht getragen hatte, weil sie immer nackt einschliefen, wenn sie sich geliebt hatten. Jetzt trug sie ihn. Das Oberteil war falsch geknöpft, und die Hose rutschte ihr von den Hüften. Sie roch an seinem Ärmel, aber sein Geruch würde bald verflogen sein. Sein Geruch, der ihr die Schwerkraft gab, die sie brauchte, um in den Schlaf zu sinken. Ohne seinen Geruch würde es schwieriger sein, lange dürfte er also nicht fortbleiben.
    Sie dachte an Friederike, dachte daran, dass ihre Stimme nicht gut geklungen hatte vorhin am Telefon und dass man einfach nicht verstehen konnte, warum sie sich ihr Leben von einem Mann wie Tom oder irgendeinem anderen so schwer machen ließ. So etwas war ihr nie passiert. Dabei kam ihr Friederikes Leben immer so viel selbstbestimmter vor als ihr eigenes, so viel mutiger.
    Alison ließ ihren Blick durchs Schlafzimmer schweifen und blieb an der neuen Kommode hängen, die gegenüberstand. Das war doch ein gutes Beispiel. Denn die Kommode hatte ihr von Anfang an nicht besonders gefallen, eigentlich war eine andere im Laden viel schöner gewesen. Sie hatte trotzdem diese gekauft, weil sie etwas billiger war oder weniger auffällig oder weil sie dachte, dass sie Victor besser gefallen würde. Und so schaute sie jetzt jeden Tag auf eine Kommode, die sie an eine Kommode erinnerte, die zu ihr passte. Und das brachte etwas auf den Punkt: Was für die Kommode galt, galt für alle Räumeihres Lebens, in denen sie ohne Victor agieren musste. Viele Formen, die sie für diesen Teil ihres Lebens wählte, waren kein Abdruck ihres Inneren, sondern eher von fahrigen Bewegungen, die sie machte, von Formen, die sie beiläufig produzierte. Vielleicht verrutschten deswegen ihre Kleider andauernd, vielleicht hing ihre Bluse deswegen meist an einer Seite aus der Hose heraus, vielleicht verlor sie deswegen früher oder später jeden Schal. Schon als Kind hatte ihre Mutter gesagt, sie sehe aus wie eine kleine, schlampige, rothaarige Elfe, und sie hatte es liebevoll gemeint.
    Sie schüttelte den Kopf. Ihr Körper schien sich so zu bewegen, dass die Kleider bei ihr keinen Halt fanden, vielleicht fühlte sie sich deswegen nackt am wohlsten, vielleicht fühlte sie sich deswegen in der Öffentlichkeit immer, als hätte man sie gerade bei irgendetwas erwischt. Beim Yoga staunten alle, wohin sie ihre Beine schlingen konnte und wie tief sie ihre Nase zum Boden bekam. Beim Yoga ging es ja auch nicht darum zu wissen, was man wollte. Sie war Mitte dreißig.
    In der Liebe wusste sie auch genau, was sie wollte: Sie wollte mit Victor bis an ihr Lebensende solche Feste erleben, sich danach so lieben wie letzte Nacht und dann solche Morgen wie heute verbringen; sie wollte sich so begehrenswert und geborgen fühlen und sich so zeigen können wie mit Victor, sie wollte sich auseinandersetzen und vertragen können wie mit ihm, und sie wollte einen Mann, der so roch wie er und der von ihrem Geruch nicht genug bekommen konnte. In der Liebe wünschte sie sich nichts anderes, keinen anderen Körper, keinen anderen Mann, kein anderes Leben. Nur in ihrem Beruf hatte sie nicht die Kraft, ihre Wünsche umzusetzen: melancholische Wassermänner wollte sie jedenfalls nicht malen, dafür hatte sie nicht Kunst studiert
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