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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind
Autoren: Annika Reich
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seine Launenhaftigkeit fester und gereifter war, als ihre es je sein könnte. Deswegen hatte sie ihn › Chīzu ‹ genannt. Als sie ihn das erste Mal so rief, machte er einen besonders grimmigen Eindruck, kam aber sofort an und sprang auf ihren Schoß. Sie hatte also ins Schwarze getroffen.
     
    Sie streckte die Arme mit den weiten Ärmeln über den Kopf. Wie ein Kranich. Ein schnell hingetuschter Kranich auf einem großen Blatt Papier. Sie war eine ›fliegende Frau‹, eine ›tonderu onna‹, wie die emanzipierten Frauen seit den siebziger Jahren genannt wurden, und sie war stolz darauf. Sie hatte einen weiten Weg zurückgelegt, aber sie war auch auf einem großen, weißen Reispapier gezeichnet – auf traditionelle Art mit schwarzer Tusche und schnellen Strichen hingestellt, ganz allein an den Bildrand; mit so viel weißem Raum um sieherum, dass der Kranich seine Flügel viermal hätte ausbreiten können und immer noch im Bild geblieben wäre. Aber er flog nicht. Sie war eine fliegende Frau, aber sie flog nicht befreit, sie war eine aktiv lebende Frau, aber sie lebte nicht wirklich. Vielleicht war sie zu schnell aus Japan abgereist. In der Zugluft heilen die Wunden nicht, hörte sie ihren Vater sagen.
    Dieser Mann hatte es tatsächlich geschafft, keine Spuren in ihrer Wohnung zu hinterlassen – außer einem weißen Zettel, auf dem er vielleicht seine Nummer oder irgendetwas anderes oder gar nichts notiert hatte. Keine Spur von ihrem Leben, dachte sie plötzlich, alles nur eine große, weiße Fläche. Und genau da hatte er hineingerufen, und dann war er verschwunden. Ohne zu warten, ob nicht vielleicht doch ein Echo zurückkam. Er hätte warten können, vielleicht wäre doch etwas zurückgekommen, vielleicht war doch etwas in ihr, das seine Frage zurückwerfen konnte, vielleicht hätte der Kranich seinen Mut zusammengenommen und in das ihn umgebende Weiß hineingerufen. Und es wäre nicht um seine Antwort gegangen, sondern nur darum, dass ihre Antwort von irgendjemandem bezeugt wurde.
     
    Langsam wurde es dunkel im Raum. Die weiße Fläche des Schreibtischs wurde körnig, ihre gegen die Decke gestreckten Stiefel ragten als scharf geschnittene Baumstämme in eine Winternacht. Sie zog sie aus und ließ sie über den Boden in den Raum hineinschlittern wie über eine frisch gefegte Eisfläche; der eine blieb stehen, und zwischen seinem Absatz und der Sohle zeigte sich ein schattiges Dreieck, der andere war umgefallen, über dem Knöchel umgeklappt und nahm so die Form eines einzelnen, ausgebreiteten Flügels an.
    Wie lange war ihr Vater schon tot? Sie hatte ihre eigene Lebensmitte vielleicht schon erreicht. In ihrem Alter hatteihr Vater in voller Blüte gestanden; sie erinnerte sich an seine Blicke, wenn sie morgens in die Schule ging, wenn er ihr Gute Nacht sagte, wenn er ihr glühend von seiner geliebten Literatur erzählte. Und sie? Vielleicht hätte Vater doch nichts dagegen gehabt, dass sie Architektin geworden war, aber dass sie immer noch auf einen Startschuss für ihr Leben wartete, das wäre ihm fremd gewesen, das hätte er nicht verstanden.
     
    Sie senkte langsam die Arme und drehte sie auf Brusthöhe einmal ausgestreckt durch den Raum. Ihr Blick fiel auf die Stiefel, die auf dem Boden lagen. Der Londoner Architekt hatte sie gemocht, und er hatte sie nach ihrer Telefonnummer gefragt. Wenn sie gewusst hätte, dass der Mann aus ihrem Schlafzimmer so ein Spielverderber war, hätte sie ihm die Nummer gegeben. Dann wäre hier heute Abend nicht dieser schwermütige Schwarzweißfilm mit japanischen Untertiteln gelaufen, sondern irgendeine leichtfüßige britische Komödie – und das wäre doch deutlich besser gewesen. Sie hatte nicht Tausende von Kilometern zwischen sich und ihre Heimat gelegt, um Trübsal zu blasen.

 
    Am Abend nach dem Fest lag Alison in ihrem Bett. Im Flur brannte die kleine Lampe, die sie immer brennen ließ, wenn sie alleine war. Sie war nicht gut im Alleinsein, sie war gut im Zuzweitsein. In dem Zwischenraum, der sich zwischen Victor und ihr immer weiter ausbreitete, herrschte eine Schwerelosigkeit, die sie Volten schlagen und zur Ruhe kommen ließ. In diesem Zwischenraum war sie zu Hause, das war ihr Kosmos, ihr Leben. Doch jetzt war sie alleine und schwebte verloren über der weißen Landschaft aus Laken, Kissen und Decken, die ihr viel zu groß vorkam für einen einzigen Menschen.
     
    Victor war gleich nach dem Frühstück aufgebrochen. Verkatert, übermüdet war er mit dem Taxi
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