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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind
Autoren: Annika Reich
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eine große Entschlossenheit in jedem seiner Handgriffe, nichts Kraftloses, Zögerliches.
    Sie schwiegen eine Weile, dann fragte er, ohne sie dabei anzusehen: »Und was ist mit Eduard? Willst du ...?«
    Sie atmete durch und wischte sich noch einmal über die Augen: »Eigentlich nichts, ich weiß auch nicht, manchmal kann ich ihn einfach nicht sehen.«
    Ihr Großvater stockte, kam zu ihr an den Küchentisch und sagte plötzlich mit einer ganz anderen, eindringlichen Stimme: »Dann schau ihn an! Wenn du ihn genau anschaust, dann kannst du ihn auch sehen.«
    Ihre Hand wanderte in ihre Manteltasche und presste den Zettel mit der Faust zusammen. Ihn anschauen. Hatte er denn Großmutter je angeschaut? Wäre sie gegangen, wenn er sie genau angeschaut hätte? Würde sie jetzt hier stehen und weinen, wenn er Großmutter genau angeschaut hätte? Sie drehte sich weg, stand auf und ging ans Fenster. Außer dem langsam vor sich hin siedenden Wasser war eine Weile nichts zu hören.
    »Ich weiß es«, sagte Großvater plötzlich wieder mit seiner alten Stimme. »Ich habe seit dem ersten Morgen darauf gewartet. Nicht einen Tag habe ich daran gezweifelt, dass sie michirgendwann verlassen wird. Sie hat mich nie gesehen, sie hat sich immer durch mich hindurch gewünscht – so wie du dich durch Eduard ... und so wie Eduard weiß, dass du ...«
    Sie erstarrte. Draußen lief eine Katze durch den Innenhof, eine junge Frau trug Müllsäcke zu den Tonnen und warf Flaschen in den Container. Das Geräusch von zerberstendem Glas blieb aus. Sie schüttelte abrupt den Kopf, wendete sich um, zog ihre Hand aus der Manteltasche und schüttelte den Kopf erneut: »Was redest du da?« Sie fasste ihn am Oberarm: »Großmutter ist beim Bäcker.«
    Er erwiderte ihren Blick, drehte sich dann wieder dem Wasserkocher zu und sagte sanft: »Gut, dann warten wir eben.«
     
    Sie warteten eine Weile und sprachen nicht mehr. Irgendwann stand Siri auf und sagte, sie müsse nun nach Hause. Er brachte sie an die Tür, versuchte noch einmal, ihr in die Augen zu schauen, schaffte es aber nur bis auf Nasenhöhe. Der letzte Rest des zimtigen Dufts wehte durch die Tür ins Treppenhaus. Nun waren sie beide allein, das hatte ihre Großmutter geschafft.

 
    Als Yoko frühmorgens aufwachte, schlief der Mann, den sie auf Alisons Fest kennengelernt hatte, noch neben ihr – den Kopf abgewandt mit tiefen, ruhigen Atemzügen. Sie betrachtete seinen Hinterkopf und die Silhouette seines Körpers unter der Decke, dann zog sie sich an und verließ ihre Wohnung. Wenn ein Mann ihr besonders gut gefiel, dann verschwand sie, bevor er aufwachte. Wie Jean-Paul Belmondo in Außer Atem .
    Im Aufzug hielt sie kurz inne, ging wieder zu ihrer Wohnungstür zurück und überlegte kurz, ob sie ihn einschließen sollte.
     
    Nun ging sie durch die leeren Straßen von Berlin-Mitte. In Tokio waren frühmorgens die Alten unterwegs, sie waren auf dem Weg in den Park zu ihrer Morgengymnastik oder machten einfach so einen kleinen Spaziergang; in Mitte nicht, hier schienen sich die Alten zu verstecken, als schämten sie sich; in Mitte wohnten Leute zwischen dreißig und vierzig, und die schliefen zu dieser Zeit noch. Der Mann, den sie auf Alisons Party kennengelernt hatte, hatte ihr von seinem Großvater erzählt, der wie sie Architekt gewesen war und wunderbare Kirchen gebaut hatte. Es gefiel ihr, dass er seinen Großvater ehrte.
    Sie würde jetzt einen Kaffee trinken und dann ins Büro gehen. Nichts klärte sie so wie die Ordnung des Millimeterpapiers, das Zeichnen von Plänen, das Lösen eines überschaubaren Problems in einem Raum, in dem sie nicht leben musste. Ein kurzes Klicken mit der Maustaste, und alles war gelöscht.
     
    Das Café war ganz in Weiß und Schwarz eingerichtet und zu dieser Zeit noch ziemlich leer. Die Milchhalle war einer der wenigen Orte, die sie nach einer langen Nacht aufsuchen konnte. Sie riss sie nicht aus ihrer Stimmung, war weder farbig noch laut. So gerne sie Berlin mochte, farblich war die Stadt unerträglich unentschlossen: kein weißes Stockholm, kein rotes Bologna und nirgendwo schneebedeckte Berggipfel. Dass das großartige, schneeweiße Mount Fuji-Dach des Sony Centers am Potsdamer Platz abends bunt angestrahlt wurde, brachte die Unentschiedenheit Berlins auf den Punkt. Eigentlich hätte sie längst die Häuser bauen müssen, die vielleicht doch so etwas wie japanische Ruhe ins Berliner Stadtbild gebracht hätten. Ihr Chef hatte sie schon mehrmals gefragt, ob sie
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