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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind
Autoren: Annika Reich
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einzelne Tropfen kleine Straßen über den Spiegel zogen. Sie sagten kein Wort, das Prasseln des Wassers zeugte von der Geschwindigkeit, mit der sich ihre Leben ineinander verschlangen. Und kein Gaspedal weit und breit, sie hatte sich nicht ins Steuer fassen lassen, sie fuhr nicht, sie flog. Sie flog so weit oben, dass sie ihre Wege nicht unter sich liegen sah. Es gab sie also doch, die große, ewige, uralte Liebe, und es war ihr im Moment vollkommen egal, dass sie eine nicht allzu alte Erfindung war; es war eine wundervolle Erfindung, und sie war nie mehr Realität als jetzt, als Tom neben ihr stand und ihr ein Handtuch um die Hüften wickelte. Diesmal irrte sie sich nicht, diesmal nicht. Sie würden sich lieben, sie würden ein Kind miteinander haben, sie würden ihr Leben zusammen verbringen.
     
    Tom ging aus dem Bad in ihr Schlafzimmer, öffnete ihren Schrank und legte ihr Unterwäsche, Strümpfe, eine Jeans und ihren weichsten Pulli heraus, dann zog er sich seine Sachenüber. Draußen schneite es wieder. Sie schauten sich an und verließen die Wohnung.
    Tom ging neben ihr durch den Schnee, und wieder fing dieses Gespräch zwischen ihnen an – über Pflanzen, die Berliner Tanztheater, Exzentriker in den Naturwissenschaften, darüber, wo es das beste Schnitzel gab und dass beide immer mindestens einmal Preiselbeeren nachbestellten. Als sie an der Buchhandlung vorbeikamen, schauten sie durch die geschlossene Glastür, und die Schneeflocken tanzten zwischen ihnen hin und her. Ihr Gang war immer noch federnd, seine Hand lag in ihrer Manteltasche, und die Frage aus dem Jagdgewehr wurde so bedeutungslos wie nie zuvor.

 
    Am Morgen nach dem Fest stand Siri in der Küche in der Wohnung ihrer Großeltern. Die Sonne fiel schräg auf den Küchentisch und tat so, als wäre nichts gewesen. Ihr Großvater duschte noch, sang vielleicht eines seiner alten Lieder, wusste von nichts: nicht, dass Siri schon so frühmorgens in seiner Wohnung war, nicht, dass hier ein Abschiedsbrief auf dem Küchentisch lag, der für ihn bestimmt war, und auch nicht, dass seine Frau ihn bereits verlassen hatte – nach siebenundvierzig Jahren Ehe.
    Siri hatte sich heute Morgen ganz in Schwarz angezogen: schwarze Stiefel, schwarze Hose, schwarzer Pulli, sogar schwarze Ohrringe, als hätte sie das Ende schon akzeptiert. Aber so war es nicht, sie würde nicht auf die Beerdigung dieser Ehe gehen, sie würde sich weigern, diese Ehe zu beerdigen, sie würde den lebenden Beweis, dass Liebe funktionierte, ihr Vorbild, ihren Sehnsuchtsort nicht zu Grabe tragen, niemals. Ihre Großeltern hatten immer etwas dafür getan, die Liebe nicht als Zeitbombe zu entlarven, die früher oder später alles in Schutt und Asche legte. Sie hätte sich bunt anziehen sollen, in allen Farben des Regenbogens oder wenigstens in Rot. Aber dafür war es jetzt zu spät. Dann war Schwarz eben ihr Kampfanzug.
     
    Das Papier, auf dem der Brief ihrer Großmutter geschrieben war, war liniert und aus einem Schreibblock gerissen, es fehlte eine Ecke, und die linke Seite war ausgefranst: der erstbeste Zettel, den Großmutter hatte finden können, die Schrift so rund und schwungvoll wie immer. Sie hätte gleich hierherkommen müssen und Großvater beistehen, gleich gestern Abend, als Großmutter ihr ihren Entschluss mitgeteilt hatte, und nicht erst jetzt, wo Großvater schon eine Nacht hinter sich hatte, deren Schlaf er sich nie verzeihen würde.
    Großvater dachte wahrscheinlich, Großmutter wäre beim Bäcker und würde gleich kommen mit seinen Mohnbrötchen und frischen Hörnchen. Aber sie würde nicht kommen, sie hatte diesen Brief hinterlassen und war gegangen, für immer, gestern Abend, als er schon im Bett gelegen hatte. Und Siri hatte sie die Rolle des Boten zugespielt, die undankbarste Rolle, die es in diesem Theater zu besetzen gab. Sie würde jetzt den Brief lesen müssen, sie würde wenigstens wissen müssen, was da stand auf dem ausgerissenen, linierten Papier. Die Duschgeräusche hatten aufgehört. Gleich würde er kommen. Wie konnte Großmutter ihm nur so etwas antun, ihm und ihr?
    Neben dem Brief auf dem Küchentisch stand der silberne Brotkorb mit den Rosinenschnecken. Sie sah die schmalen, fleckigen Hände ihrer Großmutter jede einzelne Schnecke rollen und mit einem sauberen Pinsel bestreichen. Sie sah den Blick ihrer Großmutter, mit dem sie ihr die erste Schnecke anbot und Großvater das Endstück einer dampfenden Schnecke in den Mund schob. Fast konnte sie die
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