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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind
Autoren: Annika Reich
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geschrieben hatte.
    »Darf ich dich küssen oder wen auch immer du mir da mitgebracht hast?« fragte er und umfasste ihren Nacken.
    Ein Kuss?
    Ein Kuss, der mitten in die Sprachlosigkeit hineinzielte. Und traf. Niemand konnte küssen wie er. Niemand.
     
    »Wo warst du?« fragte er.
    »Noch nicht ganz da«, sagte sie.
     
    Ob sein Ohr wirklich ab war oder nur entzündet oder keines von beidem? Sie wusste es nicht, und sie fragte es nicht. Vielleicht war es das letzte in einer Reihe von Zeichen, die nicht eine bestimmte Sache bedeuteten, sondern das eine und sein Gegenteil. Jetzt hing alles davon ab, nicht dort wieder Eindeutigkeiten zu schaffen, wo es keine gab, wo es doppelbödig war, unscharf und lebendig.
     
    Am nächsten Morgen stand sie auf, zog sich an und ging aus dem Haus. Victor schlief noch, Berlin schlief noch – bis auf die Hundebesitzer und einige wenige Väter, die mit Kinderwagenunterwegs waren. Sie ging durch die Straßen und grüßte jeden, der ihr über den Weg lief. Dann ging sie in die Milchhalle . Und als sie eintrat, sah sie Yoko dort sitzen, mit dem Rücken zur Tür. Sie ging auf sie zu, legte ihr die Hand auf die Schulter und fragte: »Was machst du denn hier?«
    »Kaffee trinken«, sagte sie, »mich von der Nacht erholen.«
    Alison lachte, bestellte sich auch einen Kaffee und setzte sich neben sie.
    »Und?« fragte Yoko.
    »Ich habe Victor wiedergetroffen, gestern. Vielleicht war er gar nicht verschwunden, vielleicht hab ich ihn einfach nur nicht mehr gesehen.«
    »Und das Gleiche ist mit dir passiert«, sagte Yoko.
    Alison hörte den Satz.
    »Und wie geht es jetzt weiter?« fragte Yoko.
    »Ich weiß nicht«, sagte Alison, »ich weiß nur, dass die Räume zu eng waren, dass ich sie zu früh abgeschlossen hatte.«
    »Das sollte man nicht tun«, sagte Yoko lächelnd.
    »Sie waren zu eng, aber es waren die richtigen. Und jetzt pfeift mir der Wind um die Ohren, aber sie sind offen.«
    »Ha«, sagte Yoko, »genau die andere Richtung, bei mir genau die andere Richtung, keine Ahnung, wie man das macht, Räume auch einmal abzuschließen.«
    »Und offen lassen?« fragte Alison.
    Sie schauten sich an.
    »Dreht man einen Farbkreis schnell genug, wird er weiß, mischt man die Pigmente, erhält man nur schmutziges Grau«, sagte Yoko.
    Alison lachte: »Und ich dachte immer, die Dinge klären sich, wenn man älter wird.«

 
    Die Textstellen, die in diesem Buch zitiert werden, stammen aus folgenden Quellen:
     
    Hans Christian Andersen, Die Schneekönigin, (Übersetzung: Mathilde Mann), Insel Verlag, Frankfurt am Main 1999 (1835–1848). (Zitat S. 145)
    Emile M. Cioran, Der Absturz in die Zeit, (Übersetzung: Kurt Leonhard), 1964 by Editions Gallimard, Paris. Klett Cotta, Stuttgart 1972. (Zitat S. 84)
    Fjodor M. Dostojewski, Weiße Nächte, (Übersetzung: Hermann Röhl), Insel Verlag, Frankfurt am Main 2002 (1848). (Zitat S. 313)
    Yasushi Inoue, Das Jagdgewehr, (Übersetzung: Oskar Benl), Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1985 (1950). (Zitat S. 30)
    A.L. Kennedy, Stierkampf, (Übersetzung: Ingo Herzke), Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2001. (Zitat S. 239f.)
    Thomas Mann, Der Zauberberg, © S. Fischer Verlag, Berlin 1924. (Zitat S. 85)
    Herman Melville, Moby-Dick, (Übersetzung: Matthias Jendis), Hanser Verlag, München 2001 (1851). (Zitat S. 284)
    Andrzej Stasiuk, Neun, (Übersetzung: Renate Schmidgall), Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. (Zitat S. 211)
    Andrzej Stasiuk, Die Welt hinter Dukla, (Übersetzung: Olaf Kühl), Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. (Zitat S. 210)
    Adalbert Stifter, »Aus dem bairischen Walde«, in: Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken, Hanser Verlag, München 2005 (1867). (Zitat S. 57f.)
    Robert Walser, »Schneien« (1878–1956), in: Zwei Spuren im Schnee, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. (Zitate S. 193)
    Émile Zola, Paradies der Damen, (Übersetzung: Grete Felsing), Buch- und Zeit-Verlagsgesellschaft, Köln 1976 (1883). (Zitat S. 283f.)
     
    Friederikes Laden wurde inspiriert vom Über Warenhaus in Berlin, Auguststraße.

 
    Annika Reich
     
    Daten, Fakten, Jahreszahlen
     
    1973 geboren in München
    Studium der Ethnologie und Philosophie an der FU Berlin
    Annika Reich lebt als freie Schriftstellerin in Berlin.
    Sie arbeitet als Lehrbeauftragte an Universitäten in Berlin, Hamburg, Freiburg. Außerdem arbeitet sie seit 2009 als publizistische Mitarbeiterin bei der Malerin Katharina Grosse.
     
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