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Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Titel: Wieviele Farben hat die Sehnsucht
Autoren: Körner
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Heinz Körner
    Der alte Zigeuner
     
    E s war eine schmucke, saubere und ordentliche kleine Stadt. Das Leben der Bewohner verlief in geregelten Bahnen, die nur selten durch eine unliebsame Störung unterbrochen wurden. Und alle in der Stadt waren bemüht, diese so beruhigende Ordnung auf keinen Fall zu gefährden oder in Frage zu stellen.
    In jedem Sommer ließen sich Zigeuner für ein paar Tage am Rande dieser kleinen Stadt nieder. Da sie sich in den normalen Gang der Dinge einfügten und keine Unordnung brachten, wurden sie zwar meist argwöhnisch beäugt, aber immerhin geduldet. Die Frauen kauften bei ihnen Stoffe und Korbwaren und besuchten heimlich, ohne daß es ihre Männer wußten, die alte Zigeunerin mit der Kristallkugel und den Tarotkarten. Die Männer bewunderten mancherlei Vorführungen und Kunststücke und besuchten heimlich, ohne daß es ihre Frauen wußten, ebenfalls die alte Wahrsagerin. Und die Kinder strichen neugierig und aufgeregt um die Wagen der Zigeuner herum. Hier roch es nach Abenteuer und Fernweh - und vor allem kam nach ein paar Tagen immer der alte Roman aus seinem Wagen, von den Kindern sehnsüchtig erwartet.
    Roman war ein alter Zigeuner mit wildem Haar, noch wilderen Augen und einem imposanten Schnurrbart. Er redete im allgemeinen wenig, doch wenn er zu erzählen begann, dann war es, als entführte er seine Zuhörer zu atemberaubenden Abenteuern in ferne Länder — nicht selten waren sie in den Herzen der Zuhörer, mehr als ihnen vielleicht bewußt war. Unmerklich wurden die Kinder durch Romans spannende Geschichten reicher und erfahrener. Deshalb waren es wohl auch nicht nur seine Erzählungen, von denen sie sich so sehr angezogen fühlten, sondern auch eine seltsame, scheue und doch innige Liebe zu diesem alten Zigeuner.
    Mit den Jahren merkten das auch die Eltern. Doch war es ihnen nie notwendig erschienen, dem allzu viel Bedeutung beizumessen. Mit der Zeit spürten sie aber, daß da noch mehr war und in ihren Kindern Gedanken reiften, die manches von der Ordnung in ihrer Stadt stören könnten. So besprachen sie eines Tages, ob sie ihren Kindern die Besuche bei Roman verbieten sollten. Allerdings wußten sie auch, daß Kinder Verbotenes eben heimlich tun. Die andere Möglichkeit wäre, das fahrende Volk von ihrer Stadt fernzuhalten. Sie wußten jedoch nicht, wie sie das den Zigeunern erklären sollten. Irgendeine an den Haaren herbeigezogene Begründung sollte dafür nicht herhalten, denn Anstand und Ehrlichkeit galten viel in dieser Stadt.
    Der Rat der Stadt wurde deshalb gebeten, sich etwas einfallen zu lassen. Und die Ältesten fanden, es sei ratsam, Roman einfach die Probleme und Befürchtungen vorzutragen und zu fragen, ob es denn nicht möglich wäre, den Kindern keine Geschichten mehr zu erzählen.
    Drei Ratsmitglieder sprachen deshalb eines Tages gemeinsam bei Roman vor und baten höflich um Gehör. Der erste trat vor und sagte: „Ohne Euch, verehrter Roman, zu nahe treten zu wollen, so wäre es uns doch recht, wenn Ihr und Eure Freunde für ein paar Jahre an unserer Stadt vorbeiziehen könntet. Ihr wißt, wir sind jedem Besucher gegenüber aufgeschlossen, aber manchmal gibt es eben Dinge, die einen zwingen, Besucher, wenn auch ungern, so doch abzuweisen. Ihr versteht, was ich meine?“
    Roman nickte und schwieg eine Weile. Dann begann er: „Bei uns Zigeunern gibt es eine Geschichte, mit welcher ich Euch antworten möchte, hohe Herren. Mag sein, daß es so war, mag sein, daß es nicht so war: Eine Frau hatte in der Nacht geträumt, daß der liebe Gott sie gerne besuchen möchte. Sie freute sich und begann gleich am frühen Morgen, ihre Wohnung schön herzurichten, kochte schmackhafte Speisen und bereitete leckere Kuchen. Natürlich zog sie ihr schönstes Gewand an, um Gott zu gefallen. Als alles soweit fertig war, klopfte es an ihrer Türe. Aufgeregt öffnete sie, aber es war nur ein armer Bettler, der um eine milde Gabe bat. ,Guter Mann’, sagte sie zu ihm, ,ich erwarte hohen Besuch und kann dich wirklich nicht brauchen. Bitte laß mich in Ruhe‘. Wenig später klopfte es wieder. Und dieses Mal stand ein Zigeuner vor der Tür, der etwas verkaufen wollte. Auch ihn wies die junge Frau ab. Schließlich klopfte es ein drittes Mal, und es war ein Ratsherr, der etwas Wichtiges mit ihr besprechen wollte. Da sagte die Frau: ,Ich bin wirklich aufgeschlossen für jeden Besucher und ganz besonders für die Ratsherren unserer Stadt. Aber es gibt manchmal Umstände, die einen
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