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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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weit.
    Am Abend erschien der Aufseher erneut und wickelte das Bandmaß ab. Er maß, was Dugajew geschafft hatte.
    »Fünfundzwanzig Prozent«, sagte er und sah Dugajew an. »Fünfundzwanzig Prozent. Hörst du?«
    »Ich höre«, sagte Dugajew. Er wunderte sich über diese Zahl. Die Arbeit war so schwer, die Schaufel faßte so wenig Stein, es war so schwer zu hacken. Die Zahl – fünfundzwanzig Prozent der Norm – erschien Dugajew sehr hoch. Die Waden schmerzten, vom Druck auf die Schubkarre taten Arme, Schultern und Kopf unerträglich weh. Der Hunger hatte ihn längst verlassen. Dugajew aß, weil er sah, daß die anderen aßen, irgend etwas diktierte ihm: du mußt essen. Aber er mochte nicht essen.
    »Na dann«, sagte der Aufseher im Gehen. »Ich wünsche Gesundheit.«
    Am Abend wurde Dugajew zum Untersuchungsführer gerufen. Er antwortete auf vier Fragen: Vorname, Nachname, Artikel, Haftdauer. Vier Fragen, die der Häftling dreißig Mal am Tag gestellt bekommt. Dann ging Dugajew schlafen. Am nächsten Tag arbeitete er wieder mit der Brigade, mit Baranow, und in der Nacht darauf führten ihn Soldaten hinter den Pferdestützpunkt und brachten ihn auf einem Waldweg an einen Ort, wo, einen kleinen Hohlweg beinahe verdeckend, ein hoher Zaun mit Stacheldrahtverhau stand und woher in den Nächten fernes Traktorengeknatter herüberklang. Und als Dugajew begriff, worum es ging, bedauerte er, daß er umsonst gearbeitet, sich umsonst gequält hatte an diesem letzten heutigen Tag.
    ‹1955›

Das Paket
    Die Pakete wurden in der Wache ausgegeben. Die Brigadiere prüften die Identität des Empfängers. Das Sperrholz brach und zerbarst auf seine Weise, auf Sperrholzweise. Die hiesigen Bäume brachen anders, schrien mit anderer Stimme. Hinter einer Schranke aus Bänken standen Leute mit sauberen Händen in allzu akkurater Militäruniform und öffneten, kontrollierten, schüttelten, gaben heraus. Die Paketkisten, halbtot nach der monatelangen Reise und gekonnt geworfen, fielen auf den Boden und platzten auf. Zuckerbrocken, Trockenobst, faule Zwiebeln und zerdrückte Machorkapäckchen verteilten sich über den Boden. Niemand las das Verstreute auf. Die Besitzer der Pakete protestierten nicht — ein Paket zu bekommen war das größte aller Wunder.
    An der Wache standen Begleitposten mit Gewehren in den Händen — im weißen Frostnebel bewegten sich irgendwelche unbekannten Gestalten.
    Ich stand an der Wand und wartete, bis ich an der Reihe war. Diese hellblauen Brocken hier — das war kein Eis! Das war Zucker! Zucker! Zucker! Eine Stunde noch, und ich werde diese Brocken in der Hand halten, und sie werden nicht zergehen. Zergehen werden sie erst im Mund. Ein so großer Brocken wird mir für zwei, für drei Mal reichen.
    Und Machorka! Eigene Machorka! Festlandmachorka, »Belka« aus Jaroslawl oder »Krementschug Nr. 2«. Ich werde rauchen, werde mit allen, allen, allen teilen, und vor allem mit denen, deren Kippen ich dieses ganze Jahr aufgeraucht habe. Festlandmachorka! In unserer Ration bekamen wir ja Tabak, der nach Ablauf der Haltbarkeit aus den Armeemagazinen entfernt wurde — ein Abenteuer gigantischen Ausmaßes: ans Lager gingen alle Lebensmittel, deren Haltbarkeit überschritten war. Aber jetzt werde ich echte Machorka rauchen. Wenn meine Frau nicht weiß, daß ich kräftigere Machorka brauche, wird man sie darauf gebracht haben.
    »Name?«
    Das Paket war geborsten, und aus der Kiste streuten Dörrpflaumen, ledrige einzelne Dörrpflaumen. Aber wo ist der Zucker? Und auch die Dörrpflaumen — zwei, drei Handvoll...
    »Sie schicken dir Filzschaftstiefel! Fliegerstiefel! Ha–ha–ha! Mit Kautschuksohle! Ha–ha–ha! Wie der Bergwerkschef! Hier, nimm an!«
    Ich war fassungslos. Was soll ich mit Filzschaftstiefeln? In Filzschaftstiefeln geht man hier nur an Feiertagen — und Feiertage gab es ja gar nicht. Wenn es Rentierfellschuhe, Jakutenstiefel oder gewöhnliche Filzstiefel gewesen wären. Aber Filzschaftstiefel — die sind zu elegant... Das gehört sich nicht. Außerdem...
    »Hör zu...«, eine Hand berührte meine Schulter.
    Ich drehte mich so um, daß ich die Stiefel und die Kiste im Blick hatte, auf deren Boden ein paar schwarze Dörrpflaumen lagen, und auch die Leitung und das Gesicht der Person, die mich an der Schulter gefaßt hielt. Das war Andrej Bojko, unser Grubenaufseher.
    Und Bojko flüsterte eilig:
    »Verkauf mir die Stiefel. Ich geb dir Geld dafür. Hundert Rubel. Du bringst sie ja nicht mal bis zur
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