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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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Sein Nachbar war gestern gestorben, einfach gestorben, nicht mehr aufgewacht, und niemanden interessierte es, woran er gestorben war, als gäbe es nur eine, die allgemein bekannte Todesursache. Der Barackendienst freute sich, daß der Tod nicht abends eingetreten war, sondern am Morgen — die Tagesverpflegung des Toten blieb für ihn. Das war allen klar, und Potaschnikow nahm seinen Mut zusammen und ging zum Barackendienst: »Brich mir eine Kruste ab«, aber der reagierte mit so wüstem Geschimpfe, wie nur ein Mensch schimpfen kann, der zu den Schwachen gehört hat und nun zu den Starken und weiß, sein Geschimpfe wird nicht bestraft. Nur in Ausnahmesituationen beschimpft der Schwache den Starken, und das ist dann der Mut der Verzweiflung. Potaschnikow schwieg und ging.
    Er mußte sich zu etwas entschließen, sich etwas ausdenken in seinem geschwächten Hirn. Oder sterben. Vor dem Tod hatte Potaschnikow keine Angst. Doch es gab einen geheimen leidenschaftlichen Wunsch, einen letzten Eigensinn — den Wunsch, irgendwo in einem Krankenhaus zu sterben, in einem Zimmer, im Bett, unter der Zuwendung anderer Menschen, einer wenn auch dienstlichen Zuwendung, aber nicht im Freien, nicht im Frost, nicht unter den Stiefeln des Begleitpostens und nicht in der Baracke unter Gekeife, Dreck und allgemeiner vollkommener Gleichgültigkeit. Er warf den Menschen ihre Gleichgültigkeit nicht vor. Er hatte längst begriffen, woher diese seelische Stumpfheit, die seelische Kälte kam. Der Frost, derselbe, der die Spucke in der Luft gefrieren ließ, ergriff auch die menschliche Seele. Wenn die Knochen einfrieren konnten, konnte auch das Hirn einfrieren und stumpf werden, konnte auch die Seele einfrieren. Im Frost konnte man an nichts denken. Alles war einfach. Bei Kälte und Hunger wurde das Hirn schlecht versorgt, die Hirnzellen trockneten ein — das war ein offensichtlicher physikalischer Prozeß, und Gott allein weiß, ob dieser Prozeß, medizinisch gesprochen, reversibel war, wie Erfrierungen, oder ob die Zerstörungen endgültig waren. Genauso die Seele — sie war eingefroren, eingeschrumpft und bleibt vielleicht für immer kalt. All diese Gedanken hatte Potaschnikow früher — jetzt war nichts geblieben als der Wunsch, den Frost lebendig durchzustehen, zu überstehen.
    Natürlich hätte er früher nach Rettungswegen suchen müssen. An solchen Wegen gab es nicht viele. Man konnte Brigadier oder Aufseher werden, sich überhaupt an die Leitung halten. Oder an die Küche. Doch um die Küche konkurrierten Hunderte, und gegen den Brigadiersposten hatte sich Potaschnikow schon vor einem Jahr entschieden und sich das Wort gegeben, hier keine Gewalt gegen einen fremden menschlichen Willen zuzulassen. Sogar um des eigenen Lebens willen hätte er nicht gewollt, daß ihm die sterbenden Kameraden ihre letzten Verwünschungen entgegenschleuderten. Potaschnikow erwartete den Tod jeden Tag — und der Tag schien gekommen.
    Nachdem er seine Schüssel warme Suppe heruntergeschluckt hatte, noch sein Brot kauend, schleppte sich Potaschnikow mühsam an seine Arbeitsstelle. Die Brigade war vor Beginn der Arbeit angetreten, und ein dicker, rotgesichtiger Mensch in Rentierfellmütze, Jakutenstiefeln und in weißem Halbpelz ging die Reihen ab. Er musterte die abgezehrten, schmutzigen, gleichgültigen Gesichter der Arbeiter. Die Leute traten stumm auf der Stelle und warteten auf das Ende der überraschenden Verzögerung. Der Brigadier stand daneben und sprach ehrerbietig zu dem Mann in der Rentierfellmütze:
    »Aber ich versichere Ihnen, Alexander Jewgenjewitsch, daß ich keine solchen Leute habe. Gehen Sie zu Sobolew und den
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, das hier ist ja Intelligenz, Alexander Jewgenjewitsch, eine einzige Plage.«
    Der Mann in der Rentierfellmütze hörte auf die Menschen zu mustern, und wandte sich dem Brigadier zu.
    »Die Brigadiere kennen ihre Leute nicht, sie wollen sie nicht kennen, wollen uns nicht helfen«, sagte er heiser.
    »Wie Sie meinen, Alexander Jewgenjewitsch.«
    »Ich zeige es dir sofort. Wie ist dein Name?«
    »Iwanow, Alexander Jewgenjewitsch.«
    »Schau her, Iwanow. He, Leute, hört mal zu.« Der Mann in der Rentierfellmütze postierte sich vor der Brigade. »Die Leitung braucht Zimmerleute, die Behälter für Erdtransporte bauen.«
    Alle schwiegen.
    »Sehen Sie, Alexander Jewgenjewitsch«, flüsterte der Brigadier.
    Plötzlich hörte Potaschnikow seine eigene Stimme:
    »Hier. Ich bin Zimmermann.« Und trat einen Schritt vor.
    Am rechten
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