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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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Holzkoffer. Das Spiel war aus, und ich konnte nach Hause gehen. Zum Holzsägen mußte ich mir jetzt einen anderen Partner suchen.
    1956

In der Nacht
    Das Abendessen war zu Ende. Glebow leckte in Ruhe seine Schüssel aus, wischte sorgfältig die Brotkrümel vom Tisch in die linke Hand, führte die Hand zum Mund und leckte die Krümel behutsam auf. Er schluckte nicht und spürte, wie der Speichel das winzige Klümpchen Brot in seinem Mund reichlich und gierig umhüllte. Glebow hätte nicht sagen können, ob es schmeckte. Geschmack ist etwas anderes, zu Dürftiges im Vergleich zu diesem leidenschaftlichen, selbstvergessenen Empfinden, das das Essen gewährt. Glebow hatte es mit dem Schlucken nicht eilig: das Brot zerging von allein im Mund, und es zerging schnell.
    Bagrezows eingefallene, glänzende Augen schauten unverwandt in Glebows Mund — niemand besaß einen so starken Willen, daß er die Augen von Essen hätte abwenden können, das im Mund eines anderen Menschen verschwand. Glebow schluckte den Speichel, und Bagrezow wandte die Augen zum Horizont — zum großen orangefarbenen Mond, der den Himmel hinaufkroch.
    »Los«, sagte Bagrezow.
    Sie gingen schweigend den Pfad zum Fels und stiegen auf einen kleinen Vorsprung, der sich um die Bergkuppe zog; obwohl die Sonne erst vor kurzem untergegangen war, waren die Steine, die am Tag die bloßen Fußsohlen in den Gummigaloschen verbrennen, schon kalt. Glebow knöpfte die Jacke zu. Beim Gehen wurde ihm nicht warm.
    »Noch weit?«, fragte er flüsternd.
    »Ja«, antwortete Bagrezow halblaut.
    Sie setzten sich zum Verschnaufen hin. Es gab nichts zu reden und auch nichts zu denken, alles war klar und einfach. Auf einem kleinen Plateau am Ende des Vorsprungs lag ein Haufen von übereinandergeworfenen Steinen und abgerissenem, vertrockneten Moos.
    »Ich hätte es auch allein machen können«, Bagrezow verzog das Gesicht zu einem Lächeln, »aber zu zweit ist es lustiger. Und für einen alten Freund...«
    Sie waren im letzten Jahr auf demselben Schiff gekommen.
    Bagrezow blieb stehen.
    »Wir müssen uns hinlegen, sonst sehen sie uns.«
    Sie legten sich hin und fingen an die Steine beiseite zu räumen. Große Steine, solche, die man zu zweit nicht hätte heben und fortschaffen können, gab es hier nicht, denn die Leute, die sie am Morgen aufgehäuft hatten, waren nicht stärker als Glebow.
    Bagrezow fluchte leise. Er hatte sich den Finger geritzt, das Blut tropfte. Er streute Sand auf die Wunde, riß ein Büschel Watte aus der Jacke und drückte es drauf — das Blut tropfte weiter.
    »Schlechte Gerinnung«, sagte Glebow gleichmütig.
    »Bist du Arzt?«, fragte Bagrezow und lutschte an seinem Finger.
    Glebow schwieg. Die Zeit, als er Arzt war, schien sehr fern. Und hat es so eine Zeit überhaupt gegeben? Allzuoft erschien ihm diese Welt hinter den Bergen, hinter den Meeren als Traum, als Erfindung. Real waren die Minute, die Stunde, der Tag vom Wecken bis zum Zapfenstreich — weiter dachte er nicht und hatte er nicht die Kraft zu denken. Wie alle anderen auch.
    Er kannte die Vergangenheit der Leute nicht, die um ihn waren, und interessierte sich nicht dafür. Im übrigen hätte Glebow, wenn sich Bagrezow morgen als Doktor der Philosophie ausgegeben hätte oder als Luftmarschall, ihm ohne Zögern geglaubt. Ist er selbst je Arzt gewesen? Verlorengegangen war nicht nur der Reflex des Urteilens, sondern auch der Reflex des Beobachtens. Glebow sah, wie Bagrezow das Blut aus dem schmutzigen Finger saugte, doch er sagte nichts. Er registrierte es nur flüchtig, doch den Willen zu einer Antwort konnte er in sich nicht finden und suchte ihn auch nicht. Das Bewußtsein, das ihm noch geblieben und das vielleicht kein menschliches Bewußtsein mehr war, hatte zu wenig Facetten und war jetzt nur auf eins gerichtet — möglichst schnell die Steine wegzuräumen.
    »Ist bestimmt tief?«, fragte Glebow, als sie sich zum Verschnaufen hinlegten.
    »Wieso tief?«, sagte Bagrezow.
    Und Glebow begriff, daß die Frage Unsinn war und die Grube wirklich nicht tief sein konnte.
    »Da«, sagte Bagrezow.
    Er hatte einen menschlichen Zeh berührt. Ein großer Zeh schaute aus den Steinen hervor — im Mondlicht war er genau zu sehen. Der Zeh sah anders aus als Glebows oder Bagrezows Zehen, nicht, weil er steif und leblos war — da war der Unterschied gering. An diesem toten Zeh waren die Nägel geschnitten, und er war fleischiger und weicher als Glebows Zeh. Sie warfen schnell die Steine beiseite, mit
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